Bei dem Wort Trauma denken viele Menschen an überwältigende Ereignisse wie Naturkatastrophen, Unfälle oder Gewalterfahrungen. Doch auch weniger drastische Erfahrungen in den frühen Lebensjahren können traumatisch sein.
Viele Menschen leiden unter den Folgen eines Entwicklungstraumas und wissen es nicht. Sie fühlen sich unbehaglich in ihrer Haut, getrieben oder ängstlich, irgendwie nicht richtig oder wertlos. Sie können sich aber oft nicht erklären, warum das so ist, weil sie sich nicht erinnern.
Das Entwicklungstrauma ist weiter verbreitet, als allgemein bekannt ist. Im Grunde ist es allgegenwärtig. Daher wird das Leid oft nicht als solches erkannt. Es gilt ja als normal.
Im Folgenden werde ich erklären, was es damit auf sich hat.
Wie funktioniert die Entwicklung in den ersten Lebensjahren?
Menschenbabys kommen gewissermaßen als Frühchen auf die Welt. Damit sind sie noch mehr als alle anderen Säugetiere darauf angewiesen, von ihrer Familie angenommen und versorgt zu werden. Dies sichert ihr Überleben.
Sie können ihre inneren Zustände wie z.B. Körpertemperatur, Schlaf, Nahrung und Stress nicht selbst regulieren. Daher brauchen sie sichere, liebevolle Bezugspersonen, die sich in sie einfühlen und ihre Bedürfnisse erfüllen. Diese liebevolle Einstimmung nennt man Co-Regulation.
Wenn ein Baby die notwendige Einstimmung bekommt und seine Bedürfnisse ausreichend erfüllt werden, fühlt es sich bestätigt, zugehörig und wertvoll. Dieses Gefühl zeigt sich dann auch als körperliches Wohlgefühl.
Sich „gefühlt zu fühlen“, wie Daniel Siegel sagt, ist unsere größte Sehnsucht – und eine notwendige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung und Selbstregulation.
Was brauchen wir also für eine gesunde Entwicklung?
Sichere Bindung und Zugehörigkeit
Alleine können Babys und Kleinkinder nicht überleben. Das Gefühl, geliebt zu werden und zugehörig zu sein, ist für sie daher überlebenswichtig. Ist es nicht ausreichend vorhanden, fühlen sie sich ausgeschlossen, zurückgewiesen und wertlos.
Einstimmung und Mitgefühl
Da sich Babys und Kleinkinder noch nicht selbst regulieren können, brauchen sie die Co-Regulation über ihre Bezugspersonen. Wenn diese sich einstimmen können und die Bedürfnisse der Kinder erkennen, lernen die Kinder, ihre Emotionen zu halten und sich zunehmend selbst zu regulieren. Dies gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit sich selbst – ein gutes Selbstgefühl also.
Autonomie
Von der sicheren Basis des engeren Kreises aus wollen Kinder die Welt entdecken und sich entwickeln. Dazu brauchen sie Raum für Neugier, Spontaneität und Kreativität. So können sie als kleine Forscher ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln, sich in ihrer Kraft erleben – und damit auch ihre Selbstwirksamkeit spüren.
Das Ideal der perfekten Bedürfniserfüllung
Leider werden die Bedürfnisse der Babys und Kleinkinder häufig nicht (ausreichend) erfüllt. Die perfekte Bedürfniserfüllung ist allerdings eine Idealvorstellung, die in der Wirklichkeit keinen Bestand hat.
Ideale Eltern gibt es nur in Lehrbüchern. Für eine gesunde Entwicklung ist es völlig ausreichend, es gut genug zu machen. Im wirklichen Leben bringen Eltern die Lasten ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Schmerz mit und tun in den meisten Fällen auch ihr Bestes. Dennoch können viele Eltern ihrem Kind nicht immer das geben, was es braucht.
Was kann zum Entwicklungstrauma führen?
Es muss nicht immer etwas Gravierendes geschehen, um ein Entwicklungstrauma auszulösen. Oft sind es viele kleine Verletzungen, die sich über einen längeren Zeitraum wiederholen. Immer jedoch fehlt die Einstimmung auf das Kind und seine Bedürfnisse. Im Folgenden beschreibe ich einige Beispiele, die zum Entwicklungstrauma führen können:
Babys schreien lassen
Früher war es üblich, die Kinder schreien zu lassen, bis sie ruhig sind. Es wurde angenommen, dass sie so lernen, sich selbst zu beruhigen. Doch wenn die Co-Regulation fehlt, ist die scheinbare Ruhe eigentlich eine tiefe Resignation. Das Kind gibt auf – mit den entsprechenden Gefühlen von Verlassenheit und Einzelkämpfertum. Unter der scheinbaren Ruhe bleibt der hohe Stresslevel jedoch erhalten.
Frühe Trennung von der Mutter
Bis in die 1970er-Jahre war es gängige Praxis, die Kinder kurz nach der Geburt von den Müttern zu trennen und sie dann auf die Neugeborenenstation zu bringen. Auch bei Frühgeburten oder Krankenhausaufenthalten im Kleinkindalter (bei denen die Kinder früher oft keinen Besuch empfangen durften,) können die Kinder in für sie schwierigen Situationen nicht durch die Mutter / Eltern reguliert werden und sind mit ihrem Stress allein, ohne ausreichende Nestwärme.
Mangel an Einstimmung und Beruhigung
Weil Babys sehr durchlässig sind, nehmen sie die Stimmung der Bezugsperson wahr und auf und bleiben so selbst auf einem hohen Stresslevel. Wenn die Mutter Stress, Ängste oder Sorgen hat, gibt sie also ihren Stress an das Kind weiter und kann es gleichzeitig nicht co-regulieren. Beispiele hierfür sind:
- Gewalt oder Sucht in der Familie
- Ein Familienmitglied ist krank oder pflegebedürftig, für die anderen bleibt nicht genügend Aufmerksamkeit (Schattenkinder)
- Der Verlust eines Angehörigen oder nahen Menschen belastet die Mutter
- Die Bezugsperson ist depressiv, narzisstisch oder selbst traumatisiert / dissoziiert und kann sich nicht auf das Kind einstimmen.
- Die Mutter / Bezugsperson ist abwesend und z.B. durch Handy oder Fernseher abgelenkt, während sie stillt oder das Kind füttert.
Das Kind bekommt niemals die volle Aufmerksamkeit und verbleibt in einem Gefühl von emotionalem Mangel. Das Grundgefühl besteht darin, dass es alleine klarkommen muss.
Überbehütung, Kontrolle und Reizüberflutung
- Überbehütende Eltern, die ihrem Kind keine Freiräume lassen und es in seiner Autonomie beschneiden. Auch hier findet keine Einstimmung statt. Das Kind kommt nicht in seine Unabhängigkeit, es fällt ihm später schwer, sich ohne Schuldgefühle auf seinen eigenen Lebensweg zu machen.
- Reizüberflutung durch dauernde Beschäftigung mit dem Kind. Wenn die Eltern nicht merken, wann beim Kind die Grenze erreicht ist und ihm keine Möglichkeit für Ruhe und Integration geben, bleibt das Kind ebenfalls mit dem hohen Stresslevel alleine.
Hier ist das Gefühl von Zuwendung mit einer Einschränkung des Selbstausdrucks gekoppelt. Es kann das Gefühl entstehen: In Gegenwart anderer Menschen kann ich nicht ich selbst sein.
Was passiert, wenn die Bedürfnisse nicht erfüllt werden?
Ein Kind, dessen Bedürfnisse nicht oder nicht angemessen beantwortet werden, reagiert zunächst mit Protest. Wenn es immer wieder erfolglos auf seine missliche Lage aufmerksam macht, wird es irgendwann resignieren und verstummen. Doch die Ruhe ist trügerisch, denn der Stress bleibt im Körper des Kindes gebunden.
Es möchte sich verbinden, um zu überleben, aber gleichzeitig ist die Bezugsperson nicht sicher. Für das Kind ist das ein echtes Dilemma. Die Bindung wird unsicher, das Urvertrauen geht verloren. Mehr zum Thema Bindungstrauma, das eng mit dem Entwicklungstrauma verbunden ist, findest Du in einem eigenen Beitrag.
Da das Kind vollkommen abhängig ist von seinen Bezugspersonen, muss es diese als unfehlbar bewerten – und sucht die Ursache für seine missliche Lage bei sich selbst.
Um die überlebenswichtige Bindung zu den Bezugspersonen aufrechtzuerhalten, unterdrückt es seine eigenen Bedürfnisse. Das kann so weit gehen, dass es sich selbst, seine Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr spürt – und die Verbindung zu sich selbst verliert.
Es fehlt also das Gefühl, sich wahrgenommen zu fühlen. Dies führt auch dazu, dass sich die Betroffenen oft selbst nicht spüren und daher nicht in ihrem eigenen Interesse handeln können. Der Mangel an Selbstgefühl wirkt sich damit auch auf ihr Selbstwertgefühl aus und ist eine Fortsetzung des ursprünglichen Empfindens, nicht ausreichend versorgt zu sein.
Was geschieht im Nervensystem beim Entwicklungstrauma?
Babys und Kleinkinder sind abhängig davon, durch ihre Umgebung reguliert zu werden. Wenn dies nicht oder nicht genügend geschieht, gerät ihr noch nicht ausgereiftes Nervensystem in Hochstress. Und da das Kind sich noch nicht selbst regulieren kann, bleibt sein Stresslevel oft auf diesem hohen Niveau stehen.
Zunächst protestiert das Kind, dann gibt es auf und resigniert. Auch wenn es dann so aussieht, als wäre das Kind ruhig, bleibt doch die hohe Ladung im Nervensystem bestehen. Doch unter der scheinbaren Ruhe des anscheinend „pflegeleichten Kindes“ bleibt der hohe Stresslevel erhalten.
Wiederkehrende Unsicherheit hinterlässt sein Nervensystem in dauernder Wachsamkeit. Die weitere Entwicklung des Kindes geschieht auf der Grundlage eines permanent überreizten Nervensystems.
Hirnstrukturen, die für unsere Instinkte, unser Gedächtnis und unsere Selbstregulation zuständig sind, entwickeln sich aufgrund des hohen Stresses anders, als sie es in einer entspannteren Situation tun würden. Diese frühen Prägungen wirken sich also auch später auf unser Empfinden und Verhalten aus.
Durch den Mangel an empfundener Sicherheit bildet sich ein relativ kleines Stresstoleranzfenster aus. Dadurch ist die Fähigkeit zur Selbstregulation eingeschränkt. Hierzu findest Du mehr Informationen in einem eigenen Beitrag über die Auswirkungen von Stress und Trauma im Körper.
Der hohen Ladung im Nervensystem hilflos ausgeliefert zu sein, wird vom Kind als lebensbedrohlich oder vernichtend erlebt. Um – gefühlt mutterseelenallein – mit diesen höchst unangenehmen Gefühlen umzugehen, entwickelt es Überlebensstrategien, die sich im späteren Leben auch als hinderlich oder destruktiv erweisen können.
So kann es z.B. sein, dass ein Gefühl tiefer Scham oder Wertlosigkeit durch übersteigerte Leistungsbereitschaft kompensiert wird. Das kann später in den Burn-out führen.
Wie ist das mit der Erinnerung?
In den ersten drei Lebensjahren ist unser Gehirn noch nicht so ausgereift, dass wir ein sogenanntes explizites Gedächtnis entwickeln. Wir können uns also an diese frühe Zeit in unserem Leben nicht bewusst erinnern.
Die Erfahrungen der frühen Jahre – und mit ihnen unsere Überlebensstrategien aus dieser Zeit – sind jedoch im impliziten, also im Körpergedächtnis abgespeichert.
Wenn nun eine Situation entsteht, die wieder Hochstress auslöst, kann es sein, dass der Mensch instinktiv mit einer früh erlernten, körperlich gespeicherten Überlebensstrategie reagiert, obwohl er verstandesmäßig weiß, dass eine andere Handlungsweise angemessener wäre.
Da die bewusste Erinnerung an mögliche Triggersituationen (Auslöser) beim Entwicklungstrauma oft fehlt, kommt die Reaktion darauf gewissermaßen wie im „Autopilotenmodus“. Die Person fühlt sich ihren eigenen Reaktionen gegenüber ausgeliefert und ohnmächtig. Durch die fehlende Erinnerung ist es schwierig zu erfassen, was überhaupt passiert ist.
Die Diskrepanz zwischen fehlender bewusster Erinnerung und Körpergedächtnis löst oft Verunsicherung und mangelndes Vertrauen in die eigene Wahrnehmung aus.
Welche Auswirkungen kann ein Entwicklungstrauma haben?
Die Folgen von Entwicklungstrauma können sich vielfältig zeigen.
Grundsätzlich ist die Fähigkeit zur Selbstregulation eingeschränkt. Das kann dazu führen, dass das Nervensystem in der Übererregung oder in der Untererregung hängen bleibt oder nicht mehr schwingungsfähig ist.
Es entwickelt sich ein relativ kleines Stresstoleranzfenster, und emotionale Schwingungen erscheinen dadurch riesig, weil die Ausschläge jenseits der gefühlten Komfortzone liegen.
Es können Stresssymptome wie Schlafstörungen und existenzielle Ängste entstehen. Häufig treten auch Ängste vor starken Gefühlen auf, die in der Familie nicht erwünscht waren. Aber nicht nur Wut, Abscheu oder Trauer gehören dazu, sondern auch Freude und Glück. Oft entsteht auch eine Angst vor Ruhe.
Eine weitere Folge ist die Unfähigkeit, Verbindung und Intimität zuzulassen. Dies führt zu einem Gefühl der Isolation und tiefer Einsamkeit. Es kann dann schwerfallen, Unterstützung anzunehmen oder darum zu bitten, was die Einsamkeit noch verstärkt.
Durch das fehlende Urvertrauen erscheint die Welt als unsicherer Ort und das Leben an sich als gefährlich. Die Resignation kann in die Depression führen, die sich oft wie ein Hintergrundgeräusch durch das Leben der Betroffenen zieht.
Durch den Mangel an liebevoller Zuwendung oder auch Entwertung kann das Gefühl entstehen, dass nicht genug von allem da ist. Es entsteht dann häufig ein Gefühl der tiefen Schuld, Scham und Wertlosigkeit.
Durch Überbehütung und Kontrolle entsteht häufig ein Mangel an Vertrauen in die eigene Kraft. Es kann auch Schuldgefühle auslösen, in die eigene Kraft zu gehen und sein Leben zu leben.
Mangelgefühl, Schuld und Scham werden häufig durch Abhängigkeiten vielfältiger Art kompensiert. Die Sucht ist dann wie eine Selbstmedikation zu verstehen, mit der das tiefe Gefühl des Mangels oder der Scham kompensiert wird.
Es kann sich dabei um substanzgebundene Süchte wie Essen, Nikotin, Alkohol, Drogen oder Medikamente handeln. Aber auch Verhaltenssüchte wie exzessives Arbeiten und Perfektionismus, Kaufen, Internet, Spielen oder Zwänge und Eifersucht (als Kontrollsucht) dienen der Ablenkung von sich selbst und dem eigenen tiefen Leid. Im Nervensystem läuft derselbe Mechanismus ab.
Menschen, die Grenzverletzungen erlebt haben, fällt es später schwer, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und für sich einzustehen. Damit werden sie anfälliger für weitere Traumatisierungen.
Wer sich selbst nicht spürt, nimmt auch seine Bedürfnisse weniger deutlich wahr und kann nicht (ausreichend) für sie einstehen. Dieser Mangel an Selbstfürsorge verstärkt das Gefühl der Wertlosigkeit und Scham und setzt den Teufelskreis fort.
Was kann helfen bei Entwicklungstrauma?
Es ist glücklicherweise nie zu spät, mit dem Heilungsprozess zu beginnen. Selbst wenn in frühen Jahren einige Entwicklungsprozesse nicht (ausreichend) stattgefunden haben, können sie doch später noch erlernt werden.
Bei der Arbeit mit Schocktrauma können die Klienten auf bisher erlernte Bewältigungsstrategien und das Gefühl ausreichender Selbstregulation zurückgreifen.
Beim Entwicklungstrauma hingegen ist es wichtig, dass die Klienten lernen, wie sie sich selbst besser regulieren und emotionale Ladung halten, also im Körper spüren zu können. Ein Teil der Begleitung besteht also darin, durch Co-Regulation die Fähigkeit der Selbstregulation zu fördern und so das Stresstoleranzfenster zu vergrößern.
In meiner Arbeit spielt die Entwicklung der Selbstregulation eine entscheidende Rolle. Wenn Du interessiert bist, in Traumatherapie oder traumasensibler Prozessbegleitung mit mir zu arbeiten, kannst Du gerne ein kostenloses Erstgespräch vereinbaren.
Lesetipp
Laurence Heller und Aline LaPierre – Entwicklungstrauma heilen (Healing Developmental Trauma)
Bildnachweis
Baby schaut nach oben –