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Sprachlosigkeit als Traumafolge ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen. Sicher ist es dir auch schon begegnet. 

Vielleicht hat es dir die Sprache verschlagen, als du dich in einer Gruppe befunden hast, in der es Konflikte gab. Möglicherweise wusstest du, was du sagen wolltest, hattest aber nicht den Mut zu sprechen, weil die Situation zu gefährlich erschien. Oder dein Kopf war leer, und dir sind die passenden Worte erst später eingefallen, als du aus der Gefahrenzone heraus warst.

Viele Menschen erleben Sprachlosigkeit in ihrem Alltag – aus den unterschiedlichsten Gründen. Keine Worte, keine Stimme zu haben, berührt uns in unserem Innersten. Denn die Fähigkeit, uns über Sprache auszudrücken, ist ein Teil unserer Identität.

In diesem Artikel werde ich beleuchten, warum wir manchmal verstummen, was dabei im Körper und Nervensystem geschieht. Und auch, wie sich Sprachlosigkeit auf unsere Beziehung zu uns selbst und unseren Mitmenschen auswirkt – im kleineren wie im größeren Rahmen.

Sprachlosigkeit als Traumafolge

Wenn wir keine Worte finden, kann dies sehr unterschiedliche Ursachen haben. Aphasie, also die Unfähigkeit zu sprechen, zeigt sich manchmal als Folge eines Schlaganfalls, von Diabetes oder bei Durchblutungsstörungen des Gehirns, also bei organischen Erkrankungen. 

Doch in diesem Artikel soll es darum gehen, warum wir verstummen, wenn der innere Stress zu groß wird, also bei traumatischem Stress. Dieser kann sowohl bei einmaligen überwältigenden Erlebnissen (Schocktrauma) als auch bei wiederkehrendem Stresserleben (Entwicklungstrauma, sequenzielles Trauma) entstehen. Mehr zu den Traumakategorien findest du in meinem Blogartikel über verschiedene Arten von Trauma.

Im Rahmen von traumatischem Stress können sich sogenannte psychogene Stimmstörungen (der Frosch im Hals oder das Wegbleiben der Stimme) bis zum völligen Verstummen (Mutismus) zeigen. Manchmal sind sie zeitweilig da, manchmal dauerhaft.

Selektiver Mutismus, also das Verstummen ausschließlich in bestimmten Situationen, zeigt sich häufig bei Kindern. Sie sprechen etwa zu Hause, doch in der Schule bringen sie kein Wort heraus. Oder andersherum. Die Ursache hierfür ist ein hoher Stresslevel durch Angst.

Sprache, Identität und Zugehörigkeit

Über Sprache drücken wir aus, wer wir sind und was wir brauchen. Eine gemeinsame Sprache zeigt auch, zu welcher Gruppe wir gehören. Beispiele hierfür sind etwa Jugendsprache oder Medizinerlatein. Wer nicht die richtigen Worte wählt, wird schnell zum Außenseiter.

An der Sprache erkennen wir auch die Herkunft eines Menschen. Besonders deutlich wird dies in Dialekten. Eine Bayerin klingt anders als ein Rheinländer.

Auch innerhalb von Familien gibt es einen speziellen Sprachgebrauch. Bestimmte Worte werden häufig verwendet, andere sind verpönt oder gar verboten.

Sprachlosigkeit als Ursache von Trauma

Die Ursachen für die Sprachlosigkeit einzelner Personen und ganzer Bevölkerungsgruppen sind vielfältig. Oft entstehen sie durch Tabus in verschiedenen Zusammenhängen. Sprachlosigkeit kann sowohl Ursache als auch Folge von Trauma sein. 

Flucht und Migration hinterlassen die Menschen oft sprachlos im neuen Land.

Im kleinen Kreis gelten in vielen Familien Redeverbote z. B. über Familiengeheimnisse oder wenn es Emotionen betrifft, die nicht erwünscht sind. Auch in Peergroups herrscht ein bestimmter Konsens, was erlaubt ist und was den Gruppenrahmen sprengt.

In Krisenzeiten erleben wir immer wieder auch auf der gesellschaftlichen Ebene Redeverbote. Sei es während und nach dem Holocaust, in der DDR oder anderen totalitären Systemen und überall dort, wo bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und diskriminiert werden. 

Heutzutage trägt die Cancel Culture ebenfalls dazu bei, dass sich Menschen aus Angst vor Ausgrenzung in Schweigen hüllen, anstatt sich frei zu äußern.

Scham und Schuld bewirken Sprachlosigkeit

Häufig geht es bei Redeverboten um Scham- und Schuldgefühle. Abgespaltene Emotionen und der entsprechende Stress werden auch nonverbal weitergegeben. Manchmal geschieht das über Generationen hinweg, bis jemand aus dem Kreislauf aussteigt und den Mut findet, das Schweigen zu brechen.

Viele Kriegskinder und Kriegsenkel leiden unter der Sprachlosigkeit ihrer Vorfahren, die transgenerational weitergegeben wurde. Mehr über die Konsequenzen erfährst du in meinem Blogartikel über Entwicklungstrauma. Nicht wenige Kriegsenkel sind heute in Psychotherapie oder gehen andere Wege der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis.

Sprache als Machtmittel

Wird Sprache als Machtmittel benutzt, bringt dies die Opfer zum Verstummen. Gewalt macht sprachlos. Gewalt kann ohne Worte geschehen, ist oft sehr subtil. Täter arbeiten oft sehr bewusst mit diesen Mechanismen und schützen sich so davor, zur Verantwortung gezogen zu werden. 

Das funktioniert – leider – in jedem Maßstab. Täter können einzelne Personen oder auch große Institutionen sein.

Menschen, die nicht spüren, dass ihre Stimme zählt, sind häufig sehr anfällig für Kompensationsangebote, die entweder Ablenkung vom eigenen Schmerz (durch Konsum jedweder Art) oder ein Gefühl der Zugehörigkeit versprechen. 

Selbst wenn diese Zugehörigkeit den Preis hat, den „ganz normalen Wahnsinn“ als akzeptabel oder gar erwünscht anzusehen. Hans-Joachim Maaz spricht in diesem Zusammenhang von Normopathie.

Manipulativer Sprachgebrauch kann auch dazu führen, dass Menschen mehrheitlich gegen ihr eigenes Gewissen handeln und auch extreme Anweisungen ihrer Autoritäten befolgen. Das Milgram-Experiment ist ein erschreckendes Zeugnis hierfür. 

Auswirkungen der Sprachlosigkeit

Wo – oft schweigende – Übereinstimmung herrscht, können Menschen sich nicht offen äußern und für sich einstehen, ohne Gefahr zu laufen, ausgegrenzt zu werden. 

Die häufige Konsequenz sind Ohnmacht und Hilflosigkeit. Hinzu kommt häufig tiefe Resignation, das Gefühl, keine Stimme zu haben. Wer diese nicht als wertvollen Beitrag erlebt, zweifelt oft auch an seinem eigenen Wert. 

Dies ist für die Betroffenen oft kaum auszuhalten, so dass diese Gefühle abgespalten werden. In der Folge entfremden sich Menschen von sich selbst. Sie verlieren den Kontakt zu sich selbst und damit ihre Identität. Oft haben sie das Gefühl, nicht zu wissen, wer sie sind. Damit sind sie sehr auf die Bestätigung anderer Menschen angewiesen.

Weil sie sich und ihre Bedürfnisse oft nicht spüren oder mitteilen können, leiden auch ihre Beziehungen darunter. Das geht mit einem Gefühl von Isolation und Unverbundenheit einher.

In Familien, in denen kein Raum ist, sich mitzuteilen, wird Trauma oft von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Leider führt die Sprachlosigkeit der Opfer auch dazu, dass niemand die Täter zur Verantwortung zieht. Dazu später mehr. 

Doch was passiert eigentlich im Körper und Nervensystem, wenn es uns die Sprache verschlägt, wenn der Schreck zu groß ist?

Verstummen und das Nervensystem

Viele Studien zur Neurobiologie, insbesondere die Arbeit von Bessel van der Kolk, zeigen, dass Trauma einen unmittelbaren Einfluss auf die Sprachzentren im Gehirn hat.

Wenn wir uns wohl und sicher fühlen, sind alle Bereiche unseres Gehirns an der Verarbeitung von Reizen beteiligt. Geraten wir jedoch in Gefahr oder sind gefühlt im Überlebensmodus, nutzen wir nur noch die Bereiche, die für Notfallreaktionen gebraucht werden. 

Andere Hirnareale wie der Hippocampus oder die Großhirnrinde werden umso weniger angesteuert, je mehr wir das Stresshormon Cortisol ausschütten. Doch genau im Großhirn sitzen die Sprachzentren.

Mehr dazu, was unter Stress im Nervensystem stattfindet, kannst du in meinem Beitrag über die Neurobiologie von Stress und Trauma lesen.

Unter Hochstress können auch Erinnerungen nicht mehr im Großhirn gespeichert werden und werden als Erinnerungsfetzen im Körpergedächtnis abgelegt. 

Das bedeutet, wir können keine zusammenhängende Geschichte unserer Erlebnisse berichten. Die Erinnerung wird fragmentiert. Mehr dazu in meinem Blogartikel Stress, Trauma und das Gedächtnis.

Die Konsequenzen des Verstummens für die Opfer

Für die Opfer hat dies oft fatale Folgen, insbesondere dann, wenn sie vor Gericht aussagen sollen und dies aufgrund der Dissoziation (Abspaltung) des Erlebten nicht können. 

Weil ihre Erinnerung fragmentiert ist, sind ihre Aussagen oft nicht zusammenhängend oder je nach Tagesverfassung unterschiedlich (state dependent memory). 

Damit ergeben sich Aussagen, die bei der momentanen Rechtslage vor Gericht nicht verwertbar sind. Auch in privatem Rahmen wird den Betroffenen oft nicht geglaubt.

Dies schützt die Täter davor, in die Verantwortung genommen zu werden. Oft hinterlässt dies die Opfer in noch größerer Resignation.

Sprache als Auslöser für Stressreaktionen

Hinzu kommt, dass es für die Betroffenen von Gewalt anstrengend ist, ihre Geschichte zu berichten. Denn die wiederholte Erzählung des Erlebten wirkt als potenzieller Auslöser für eine erneute Stressreaktion (Retraumatisierung).

Sprache als Werkzeug der Heilung

Doch Sprache kann auch ein mächtiges Werkzeug auf dem Heilungsweg sein. Wenn wir wertschätzend miteinander sprechen, wird es leichter, aus dem Überlebensmodus in ein Empfinden von Sicherheit zu kommen. So fühlen wir uns verbundener und kommen auch besser mit unserer Kraft in Kontakt.

Menschen, die in einer Sprache verletzende Worte gehört haben, tun sich in einer neuen Sprache oft leichter, sich neu zu definieren.

Ich selbst erinnere mich, lange Zeit nur auf Englisch gesungen zu haben. Die deutsche Sprache war mir zu sperrig und schwer (zu beschwert durch meine eigenen Erlebnisse). Mittlerweile singe ich Lieder in allen Sprachen.

Eine andere Sprache zu sprechen, verändert auch die Gedanken, da die Schwerpunkte in jedem Idiom anders gelagert sind. Manche Sprachen sind in einiger Punkten differenzierter, haben also unterschiedliche Begriffe. 

Für das deutsche Wort Liebe werden im Griechischen u. a. Eros (stürmische, erotische Liebe), Philia (freundschaftliche Liebe) oder Agape (spirituelle, bedingungslose Liebe) unterschieden. In anderen Sprachen kann ein einzelnes Wort je nach Kontext mehrere Bedeutungen haben. Chinesisch und Aramäisch sind Beispiele hierfür.

Die eigene Stimme wiederfinden

Wichtig für die Integration des Traumas ist nicht unbedingt, über das Erlebte zu sprechen. Dies könnte erneuten Stress bedeuten. 

Doch es ist hilfreich für den Heilungs- und Integrationsprozess, wenn wir jemandem berichten oder zeigen können, wie wir uns heute damit fühlen.

Wenn uns dazu die Worte fehlen, können wir unmittelbar mit der Stimme arbeiten, uns in Bildern, Musik oder Bewegung ausdrücken. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. 

Interessant ist, dass Menschen, die stottern oder Tics haben (z. B. beim Tourette-Syndrom), sich beim Singen ganz geschmeidig ausdrücken können. 

Körpertherapeutische Ansätze, die sich mit der Stimme beschäftigen, sind ebenfalls hilfreich für Menschen, deren Selbstausdruck eingeschränkt ist.

Auch das Schreiben ist ein kraftvolles Instrument, mit der eigenen Stimme sichtbar zu werden. Daher ist Journaling für viele Menschen so attraktiv.

Welches Medium wir auch wählen: die Möglichkeit, uns mitzuteilen und darin von einer wohlwollenden Person (oder Gruppe) bezeugt zu werden, ist es, was heilsam ist. So gelangen wir aus dem Überlebensmodus zurück in ein Empfinden von Sicherheit.

Fazit

Sprachlosigkeit als Traumafolge ist ein komplexes Phänomen, das Menschen in ihrem tiefsten Inneren berührt. Doch es gibt vielfältige Wege, die eigene Stimme wiederzufinden.

Sprache ist in unserer Welt ein wesentliches Mittel zum Selbstausdruck. Daher ist es die Verantwortung aller Menschen, ein Feld zu schaffen, in dem Heilung und Integration durch die eigene Stimme möglich sind. 

Denn letztlich ist es die menschliche Verbindung, die heilsam ist. Eine wohlwollende Verbindung, die dadurch stärker wird, dass wir einen sicheren Raum erleben, in dem wir unsere Geschichten, unser Leid und unsere Hoffnung teilen können.

Wie du siehst, ist das Thema Sprachlosigkeit und unterbrochener Selbstausdruck allgegenwärtig. Wenn dich dieser Artikel inspiriert hat, deine innere Stimme (wieder) zu entdecken, schau dir gerne meine Angebote zu Körper-Psychotherapie und traumasensiblem Coaching an.

Bildnachweis
Frau sieht schweigend aus dem Fenster –

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