Während unser Nervensystem durchaus für kurzzeitigen Stress ausgelegt ist, kann chronischer oder traumatischer Stress erhebliche Folgen haben. Denn im Überforderungsmodus verändern sich die Verarbeitungsstrategien im Gehirn.
Traumatischer Stress, also unvollendete Stressreaktionen führen dazu, dass die Betroffenen die gleichen starken Emotionen und Körperempfindungen immer wieder erleben. Das fühlt sich dann an, als würde das Trauma hier und jetzt wieder stattfinden.
Wie es dazu kommt und wie es Dir gelingen kann, damit umzugehen und Stück für Stück herauszufinden, erkläre ich in diesem Beitrag. Falls Du von chronischem Stress oder Trauma betroffen bist, hilft es Dir vielleicht, besser zu verstehen, was in Deinem Nervensystem passiert.
Form follows function – Gehirnentwicklung folgt dem Erleben
Während einige Teile des Gehirns bereits bei der Geburt voll entwickelt sind, reifen andere Bereiche erst nach und nach.
Was wir erleben und welche Möglichkeiten wir haben, das Erlebte zu verarbeiten, bestimmt maßgeblich, wie sich unser Gehirn entwickelt. Und das hat Auswirkungen darauf, wie wir im späteren Leben Sinnesreize und auch Stress verarbeiten. Welche frühen Erfahrungen wir machen, wirkt sich also auf unsere verkörperte Resilienz und damit auch Stressresistenz aus.
Einige Teile des Gehirns sind besonders beteiligt an der Verarbeitung von Stress.
Das Stammhirn
Das Stammhirn ist entwicklungsgeschichtlich der älteste Teil unseres Gehirns und bei der Geburt bereits voll entwickelt. Du kannst das Stammhirn etwas oberhalb des Übergangs von Halswirbelsäule zum Schädel lokalisieren.
Es ist zuständig für die vegetativen, lebenserhaltenden Funktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzfrequenz. Auch unsere Reflexe und Überlebensinstinkte zur Selbst- und Arterhaltung (Kampf, Flucht und Erstarrung sowie Sexualtrieb) werden von hier aus gesteuert.
Traumatischer Stress, also Überlebensenergie, wird im Stammhirn verarbeitet. Sehr vereinfacht funktioniert es nach dem Prinzip: Kann es mich fressen? Kann ich es fressen? Können wir uns paaren?
Das limbische System
Ein wichtiger Teil des Zwischenhirns ist das limbische System. Wie ein Saum liegt es um den Hirnstamm herum, ungefähr auf der Höhe der Ohren. Schlaf, Hunger, Körpertemperatur und Schmerz werden hier gesteuert.
Das limbische System entwickelt sich in den ersten Lebensjahren. Je nachdem, was wir erleben, kann dieser Bereich sehr unterschiedlich geprägt werden. Und funktioniert später dann auch anders.
Hier wird bewertet, was angenehm, unangenehm oder bedrohlich ist und was im Sinne des Überlebens die beste Handlungsoption ist. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf unser Bindungs- und Sozialverhalten. Auch für das Körpergedächtnis und die Überführung ins episodische Gedächtnis, das Langzeitgedächtnis, spielt das limbische System eine große Rolle.
Die Bewertung erfolgt emotional (rechtshemisphärisch) unter Berücksichtigung von Sinneseindrücken und Empfindungen. Dabei wird abgeglichen, ob wir schon vorher etwas Ähnliches erlebt haben. Dieser Abgleich geschieht sehr schnell und quasi instinktiv. Dabei sind zwei Strukturen besonders wichtig:
- Der Thalamus empfängt Sinnesreize (Sehen, Hören, Spüren, Schmecken), filtert sie und leitet sie an die Amygdala und das Großhirn weiter. Wegen seiner Filterfunktion wird der Thalamus auch Tor des Bewusstseins genannt.
- Die Amygdala, auch Mandelkern genannt, verknüpft Ereignisse mit bestimmten Emotionen und bewertet sie so. Hier wird also entschieden, wie wir uns mit dem, was wir erleben, fühlen. Diese Verknüpfung wird im impliziten Gedächtnis, also im Körpergedächtnis, abgespeichert.
Auch für den Umgang mit Angst und das Wiedererkennen gefährlicher Situationen ist die Amygdala zuständig. Sie hat damit unter anderem die Funktion einer Gefahrenleitstelle. - Der Hippocampus ordnet die Ereignisse zeitlich und räumlich ein und leitet diese Informationen an den Neokortex weiter. So werden Erinnerungen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis überführt. Damit werden aus Körpererinnerungen dann auch bewusste Erinnerungen. Somit arbeitet der Hippocampus wie ein Archivar.
Das Großhirn (Neokortex)
Das Großhirn ist entwicklungsgeschichtlich der jüngste Teil des Gehirns. Es reift bis ins frühe Erwachsenenalter. Wenn Du Deine Stirn berührst, bist Du mit Deinem präfrontalen Kortex in Kontakt.
Besonders in diesem Teil des Großhirns werden die Informationen aus dem limbischen System als Langzeiterinnerungen gespeichert und in unser biografisches Gedächtnis eingeordnet. Hier ist sozusagen die Bibliothek unserer Erinnerungen angelegt.
Die Einordnung von einzelnen Erlebnissen in einen größeren Kontext erlaubt uns dann, das Erlebte zu relativieren und aus der Vogelperspektive (Meta-Ebene) aus zu betrachten, also abstrakt zu denken. Diese Bewertungen geschehen analytisch und rational (linkshemisphärisch). Mögliche kausale Zusammenhänge zu erforschen, braucht etwas länger als der analoge Weg des limbischen Systems.
Auch Fähigkeit zur Sprache, also das Erlebte in Worte zu fassen und zu erzählen, ist hier angesiedelt.
Wie erkennt das Gehirn Gefahr?
Ob eine Situation gefährlich ist oder nicht, entscheidet das Gehirn über zwei verschiedene Wege.
Wenn (innere oder äußere) Sinnesreize zum Thalamus gelangen, filtert er sie und leitet sie sowohl zur Amygdala als auch zum Neokortex weiter.
In der Amygdala wird schnell und automatisch entschieden, ob eine Gefahr besteht. Dazu gleicht der Hippocampus den Sinnesreiz mit früheren Erlebnissen ab und gibt diese Information an die Amygdala. Wenn der Reiz als gefährlich eingestuft wird, sorgt sie für die Ausschüttung von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol) und aktiviert das autonome Nervensystem. Damit wird eine Stressreaktion ausgelöst.
Durch die Aktivierung des Sympathikus (des „aktiven“ Teil des autonomen Nervensystems) bereitet sich der Körper für Kampf und Flucht vor. Wenn wir uns z.B. erschrecken, weil wir glauben, eine Schlange auf dem Boden gesehen zu haben und kurz davor sind, loszurennen, ist das genau diese Reaktion.
Das Großhirn (also der präfrontale Kortex) verarbeitet die Information ebenfalls, ist jedoch beim sorgfältigen und detaillierten Abwägen etwas langsamer. Daher ist die Stressreaktion häufig schon angeschoben, bevor – hoffentlich – die Einsicht ankommt, dass die Situation keine Gefahr darstellt.
Wenn der präfrontale Kortex dann erkennt, dass die vermeintliche Schlange doch nur ein Ast auf dem Boden ist, wird der Alarm über den Parasympathikus (den Teil des autonomen Nervensystems, der für Ruhe zuständig ist) abgestellt.
Die vollendete Stressreaktion
Wenn es uns gelingt, in einer Gefahrensituation handlungsfähig zu bleiben, weil wir kämpfen oder fliehen können, entladen wir die Stressenergie und auch die Stresshormone. Weil wir uns danach wieder ausreichend sicher fühlen, springt der Parasympathikus an. Die Stressreaktion kommt zum Ende, und das autonome Nervensystem kommt wieder ins Gleichgewicht.
Die Amygdala verbindet das Gefühl dieser Selbstwirksamkeit mit dem Erlebnis und legt es im Körpergedächtnis ab als „Yes, I can“. Das Vertrauen in die eigene Kraft steigt durch dieses verkörperte Wissen.
Der Hippocampus sortiert das Erlebte als: „Es ist vorbei“ in die Vergangenheit und gibt die Information an den präfrontalen Kortex weiter. Dort wird sie als Geschichte unseres Lebens abgelegt, kann dort abgerufen und erzählt werden.
Das implizite (Körper)Gedächtnis und das explizite (Langzeit)Gedächtnis stimmen wieder überein, Körper und Geist sind in Einklang. Damit kommt das System in Ruhe.
Keine Lösung – was Daueralarm in Gehirn bewirkt
Bei chronischem Stress und Trauma bleiben wir länger in einem Gefühl der Ohnmacht und Überwältigung. Wenn wir die Situation nicht durch eigenes Handeln lösen können, wird auch die Stressenergie nicht entladen. Dann bleiben die Stresshormone weiter im Körper und überfluten das Gehirn.
Solange wir uns nicht sicher fühlen, greift der Parasympathikus nicht, und die Stressreaktion wird nicht vollendet. Dann können wir nicht zur Ruhe kommen.
Der Daueralarm führt dazu, dass das Gehirn die Informationen anders verarbeitet. Das beeinflusst sowohl das Gedächtnis als auch die Entwicklung des Gehirns. Ein traumatisiertes Gehirn sieht nicht nur anders aus, sondern funktioniert auch anders als ein gelassenes.
Die Erinnerung wird fragmentiert
Besonders der Hippocampus, der Archivar, wird durch die Überflutung mit Stresshormonen beeinträchtigt. Er kann die Empfindungen aus dem Ereignis nicht mehr zeitlich und räumlich einordnen und an den präfrontalen Kortex weiterleiten. Dadurch ist es nicht mehr möglich, zwischen heute und damals zu unterscheiden.
Das Erlebte kann dann nicht ins episodische Gedächtnis (Langzeitgedächtnis) überführt werden. Dies führt zu Erinnerungslücken oder Gedächtnisverlust. Daher kann nach einem Trauma eine sogenannte Amnesie entstehen.
Die Aktivität des präfrontalen Kortex lässt nach, weil er weniger aktuelle Informationen erhält. Darunter leidet auch die Fähigkeit, das Erlebte zeitlich einzuordnen und zu relativieren. Somit können wir in diesem Zustand keine Realitätsprüfung mehr vornehmen, also Vergangenes nicht mehr von Aktuellem unterscheiden.
Auch das Übersetzen der Empfindungen in Sprache wird gehemmt. Es entsteht möglicherweise Sprachlosigkeit. (Die Diskussion um „Nein heißt Nein“ finde ich vor diesem Hintergrund recht fragwürdig, weil viele Menschen in Zustand der Hilflosigkeit keinen Zugang zum Sprachzentrum finden und dann eben nicht sprechen können.)
Über die Amygdala werden die sensorischen Eindrücke als Fragmente im Körpergedächtnis abgespeichert. Dann kann es Empfindungen geben, die wir nicht mit aktuellen Erlebnissen in Zusammenhang bringen können.
Da es sich um hochgeladene Zustände handelt, ist die Amygdala in ständiger Wachsamkeit und meldet auch bei kleinen Gelegenheiten Alarm. Diese Empfindungszustände können also leicht getriggert werden.
Weil die fragmentierten Empfindungen nicht in Zeit und Raum eingeordnet werden können, fühlt es sich dann so an, als würden wir das alles heute erleben. Wir können nicht zwischen „hier und jetzt“ und „dort und damals“ unterscheiden.
Auch der Thalamus, der Wahrnehmungsfilter, wird beim Trauma beeinträchtigt, was zu ständiger Reizüberflutung führen kann. Hochsensibilität mag hier ihren Ursprung haben.
Durch unverarbeitetes Trauma entsteht also ein massives Ungleichgewicht zwischen eingeschränktem episodischen Gedächtnis und hochgeladenem Körpergedächtnis. Um uns vor dieser inneren Dissonanz zu schützen, entwickeln wir dann allerlei Abwehrmechanismen. Das autonome Nervensystem bleibt dysreguliert, also aus dem Gleichgewicht, und kann nicht zur Ruhe kommen.
Dysregulation und die Folgen
Da das autonome Nervensystem auf jedes Organsystem wirkt, kann es zu vielfältigen Symptomen führen, wenn es dysreguliert ist.
Im Zustand der Übererregung können beispielsweise Ängste und Panik auftreten, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, Herz/Kreislaufbeschwerden, fehlende Impulskontrolle und innere Unruhe.
In der Untererregung fühlen sich Menschen eher depressiv, taub oder dissoziiert. Auch die Fähigkeit, Worte zu finden und zu sprechen, ist möglicherweise eingeschränkt.
Wie sich Über- und Untererregungszustände entwickeln, kannst Du in meinem Beitrag über die Polyvagaltheorie lesen.
Unser heutiges Gespür im Körper kann als somatischer Trigger wirken und alte Gefühlszustände reaktivieren. Durch diese Feedbackschleifen kann ein Teufelskreis entstehen.
Außerdem bewerten wir das, was wir gerade erleben, auf der Grundlage unserer somatischen Empfindungen. Wenn wir durch unverarbeiteten Stress noch Unruhe im Körper tragen, bewerten wir die heutige Situation als unsicher oder gar gefährlich, auch wenn sie es gar nicht ist.
Der Weg (zurück) in die Regulation
Für den Weg zu einem regulierten Nervensystem ist es ein wesentlicher Faktor, dass wir uns im Körper sicher fühlen können.
Da Trauma überwiegend im Stammhirn und im Körpergedächtnis gespeichert wird, ist es hilfreich, dort mit der Therapie zu beginnen. Wenn das Großhirn und der Körper nicht miteinander verbunden sind, greift eine reine Gesprächstherapie nicht.
Das Kleinhirn ist eng mit dem Stammhirn verbunden. Dort werden Gleichgewicht, Muskelkontraktion, Bewegung und Koordination gesteuert. Außerdem spüren wir über das Kleinhirn, wie wir im Verhältnis zum Raum verortet sind (Propriozeption). Also werden hier viele Körperwahrnehmungen verarbeitet.
Wenn wir uns über den Körper im Hier und Jetzt verorten können, wird es möglich, Sicherheit zu spüren. Dann wird uns klar, dass das, was wir erlebt haben, vorbei ist.
Auch liebevoller und eingestimmter Kontakt und Körperresonanz sind hilfreich, um sich selbst wieder besser zu spüren. Wenn wir uns von einer anderen Person wirklich gefühlt fühlen, kann unser Nervensystem zur Ruhe kommen.
Neuroplastizität – Das Gehirn lernt immer weiter
Wunderbarerweise lernt das Gehirn immer weiter.
Das bedeutet: Auch, wenn wir in unseren frühen Lebensjahren vielleicht nicht die idealen Voraussetzungen für unsere (Gehirn-)Entwicklung hatten, können wir doch heute durch neue, gute Erfahrungen unserem Nervensystem die Möglichkeit bieten, sich immer besser zu regulieren.
Das geschieht zwar nicht von heute auf morgen, aber mit Geduld und Kontinuität ist vieles möglich.
Auf diese Weise können wir resilienter gegen Stress werden und mehr Ruhe, Leichtigkeit und Freude in unser Leben bringen.
Ich hoffe, Du konntest einige Einsichten in Dein „Innenleben“ gewinnen. Wenn Du daran interessiert bist, mit mir zu arbeiten, kannst Du hier ein kostenfreies Erstgespräch vereinbaren.
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