Verwundete Heiler sind Menschen, die ihr eigenes Leid gewürdigt und integriert haben und die nun anderen Menschen hilfreich zur Seite stehen – auf eine Weise, die ohne diese verkörperte Erfahrung nicht möglich ist. Doch warum ist es so wichtig, diesen Wandlungsprozesses selbst durchlaufen zu haben? Und was hilft, mit der eigenen Verletzlichkeit sorgsam umzugehen?
Dieses Thema ist mir eine Herzensangelegenheit – nicht nur als selbst betroffene Heilkundlerin, die sich ihrer eigenen Geschichte und Verletzlichkeit bewusst ist.
Auch als Patientin und Klientin konnte ich eindrucksvolle Unterschiede in der Behandlungsqualität und therapeutischen Beziehung feststellen – je nachdem, ob die Behandler mit ihrer eigenen Befindlichkeit in Kontakt waren oder eine professionelle Fassade zur Schau trugen.
Dieser Artikel ist daher eine Einladung an alle Behandelnden, sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst zu sein und sich berühren zu lassen – von sich selbst und von den ihnen anvertrauten Menschen.
Denn die Basis aller Heilung ist Verbundenheit – und ein guter zwischenmenschlicher Kontakt. Auf dieser Grundlage der Menschlichkeit können dann auch fachliche Methoden ihre volle Wirkung entfalten.
Nicht zuletzt sind wir auch erst dann in der Lage, zu unserem eigenen Besten zu handeln, wenn wir um unsere Grenzen wissen. Und die werden von unseren (integrierten) Erfahrungen gesteckt.
Verwundete Heiler – mit Trauma im Heilberuf
Mit der eigenen Verletzlichkeit in einem Heilberuf zu arbeiten, stellt viele Menschen vor besondere Fragen und Herausforderungen. Mindestens die Hälfte der Menschen, die im psychosozialen und therapeutischen Bereich arbeiten, haben eine eigene Vorgeschichte mit psychischen Befindlichkeiten. Vielleicht sind es auch mehr, die Zahlen variieren je nach Quelle.
Unter Psychotherapeuten sind besonders Depressionen weit verbreitet. Diese wiederum sind eine gar nicht so seltene Traumafolge. Doch auch andere Symptome können sich zeigen.
Wenn sie beim Therapeuten einen guten Platz haben, stehen sie einer wirkungsvollen Behandlung nicht im Weg, sondern können ihr sogar dienlich sein. Denn das Mitgefühl für die Menschen, die unsere Unterstützung suchen, steigt mit dem Bewusstsein für die eigene Verletzlichkeit.
Doch hierfür das Herz offenzuhalten, stellt die Betroffenen im Berufsalltag oft vor besondere Herausforderungen. Denn das Gesundheitswesen ist ein Arbeitsfeld mit hohen Anforderungen. Auch darum soll es in diesem Artikel gehen.
Da ich selbst (körper)psychotherapeutisch arbeite, schreibe ich auch aus dieser Perspektive. Letztlich ist das Stigma der eigenen Verletzlichkeit im Zweig der Psycho-Medizin auch am größten. Dennoch betrifft das Thema auch Menschen, die in anderen Fachbereichen tätig sind.
Bekannte verwundete Heiler und Therapeutinnen
Häufig sind es Menschen mit bestimmten Einschränkungen, die auf ihrem Weg durch ihre persönliche Krise heilsame Entdeckungen machen. Diese geben sie danach an andere Menschen weiter. Einige Beispiele unserer Zeit möchte ich hier nennen:
Francine Shapiro
gilt als Begründerin der traumatherapeutischen Methode EMDR. Als sie selbst in einem übererregten Zustand war, beobachtete sie die Bäume und spürte, wie die Bewegung ihrer Augen nach links und rechts sie immer mehr beruhigte. Diese Desensibilisierung erforschte sie später grundlegend und entwickelte daraus die Methode EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing).
Milton Erickson
erkrankte während der Highschool-Zeit an Polio und war danach gelähmt. In der Phase der Rekonvaleszenz begann er, mit Trancezuständen zu experimentieren und entwickelte daraus die Hypnotherapie, wie wir sie heute kennen, und die später in viele andere Therapiezweige einfloss.
Marsha Linehan
wurde in ihrer Jugend mit Schizophrenie fehldiagnostiziert, in die Psychiatrie eingewiesen und dort vielfältigen, teils brachialen Behandlungen unterzogen. Später berichtete sie von ihrer eigenen Betroffenheit mit einer Borderline-Persönlichkeitsakzentuierung. Als Verhaltenstherapeutin entwickelte sie die DBT (Dialektisch-Behaviourale Therapie), die häufig bei Borderline-Betroffenen eingesetzt wird.
Viktor Frankl
ist wohl eines der beeindruckendsten Beispiele für Resilienz. Als Psychiater leitete er eine Klinik in Wien, bevor er seine Eltern und seine erste Frau in Konzentrationslagern verlor und auch selbst interniert war. Später entwickelte er die Logotherapie, in der er postulierte, dass Menschen auch unter unmenschlichsten Umständen die Wahl haben, wie sie mit dem Leid, das ihnen widerfährt, umgehen wollen.
Virginia Satir
Die spätere Begründerin der systemischen Familientherapie stammte aus einem Elternhaus, in dem es viel Streit gab. So wollte sie schon mit 5 Jahren „Familiendetektivin“ werden. Dieser Wunsch wurde in ihrem späteren Beruf Wirklichkeit und hat die therapeutische Landschaft nachhaltig geprägt.
Die Liste ließe sich sicherlich ins Unbegrenzte fortsetzen. Auch viele meiner persönlichen Lehrerinnen und Lehrer haben die Signatur ihrer eigenen Transformation in ihre Methoden eingewoben. Doch nicht nur für Lehrende ist der eigene Heilungsprozess wichtig, sondern auch für Praktizierende.
Wo aber hat der Mythos des verwundeten Heilers seinen Ursprung? Bereits in alten indigenen Traditionen wusste man um die Kraft der eigenen Verletzlichkeit. Im europäischen Raum beschreibt die Sage von Chiron dieses uralte Wissen.
Chiron, der verwundete Heiler
Chiron ist eine Gestalt in der griechischen Mythologie, die mich immer wieder tief berührt. Er steht sinnbildlich für jemanden, der durch seine eigene Dunkelheit gegangen ist und auf seinem eigenen Heilungsweg vielen anderen zur Seite stand.
Chiron kam als Sohn von Kronos und Philyra in der Gestalt eines Zentauren – halb Mensch, halb Pferd – auf die Welt. Enttäuscht über ihren wilden Sohn, bat Philyra Zeus, sie in einen Baum zu verwandeln, damit sie ihn nicht stillen müsse. Chiron blieb allein neben dem Baum zurück.
Doch Apollo und Athene hatten Mitgefühl mit ihm und adoptierten ihn. So wuchs er trotz seines frühen Verlustes behütet heran und erlernte neben vielen anderen Künsten auch die Heilkunst.
Eines Tages verletzte ihn sein Freund Herakles versehentlich mit einem vergifteten Pfeil am Knie. Da Chiron als Zentaur zwar unsterblich, aber nicht unverletzbar war, litt er fürchterliche Schmerzen, denn die Wunde verheilte nicht.
Auf der Suche nach Heilung reiste er durch weite Regionen, lernte viel über die Heilkunst und gab etliches davon an andere Hilfesuchende weiter. Doch er konnte sein eigenes Leid nicht lindern.
So bat er Zeus darum, sterben zu dürfen und befreite mit seinem Tod Prometheus, für den der Sage nach ein Unsterblicher sein Leben lassen musste. Zeus setzte Chiron als Sternbild des Zentaur (das bezeichnenderweise für den Schützen steht) an den Himmel.
Die Kraft der Hinwendung
Oft sind es die tiefen Verletzungen und Schicksalsschläge im Leben, die uns reifen lassen und uns die Kraft geben, Dinge zu verändern. Schmerz ist eine Tatsache im Leben, und es hilft auf die Dauer nicht, ihm auszuweichen oder dagegen zu kämpfen.
Diese Abwehrstrategien verbrauchen viel Energie, die uns für dann echte Lebendigkeit nicht mehr zur Verfügung steht. Wir fühlen uns entfremdet und abgeschnitten – sowohl von uns selbst als auch von anderen.
Wenn es uns jedoch gelingt, den Schmerz in uns zuzulassen, ohne uns darin zu verlieren, können wir Mitgefühl mit uns selbst haben – und dann auch mit anderen Menschen. So gelingt Verbindung als Grundlage für Heilungsprozesse aller Art.
Die Kraft der Verletzlichkeit
So wie Chiron durch das Mitgefühl Apollos und Athenes getragen war und seine frühe Bindungsverletzung heilen konnte, brauchen wir alle Unterstützung darin, uns unserem Schmerz zuzuwenden, die Verletzlichkeit anzuerkennen und innerlich Frieden zu schließen.
Um das Herz für uns selbst zu öffnen, brauchen wir manchmal den mitfühlenden Blick einer anderen Person – sei sie Freundin, Arzt, Therapeutin oder Heiler.
Wenn wir die eigene Zartheit anerkennen und unsere Wunden anschauen können, ohne sie zuzudecken, kommen wir auch mit der eigenen heilenden Urkraft in Kontakt – dem inneren Arzt oder dem inneren Heiler.
Erst wenn wir diese beiden Pole – Verletzlichkeit und Kraft – in uns selbst spüren, erkennen wir sie auch in unseren Mitmenschen. So können wir sie ermutigen, auf die Reise nach innen zu gehen und mit ihrer eigenen heilenden Kraft in Kontakt zu kommen.
Dann sehen wir unsere Klienten nicht mehr nur im Gefälle der beruflich bedingten Hierarchie (Ärztin – Patient oder Therapeut – Klientin), sondern gleichzeitig auch auf Augenhöhe von Mensch zu Mensch.
Ich sehe beides in mir – ich sehe beides in dir. So ist ein würdevoller und menschlicher Umgang miteinander möglich.
Der verwundete Heiler in alten Traditionen
Dieser Umstand des An-Erkennens der eigenen Verletzlichkeit und seine Konsequenz hatte in vielen alten Kulturen einen extrem hohen Stellenwert, noch vor der Kräuterkunde oder anderen Heilverfahren.
In vielen indigenen Traditionen wurden die Schamanen gleichsam durch eine eigene Krise zum Heilen berufen. Nur wer „die dunkle Nacht der Seele“ durchquert hatte, wusste um die Tiefen und Untiefen der Heilungsprozesse und war durch seinen eigenen Weg geläutert.
Der eigene Prozess und die verkörperte Erfahrung waren also notwendige Bedingungen dafür, andere Menschen heilkundlich unterstützen zu dürfen.
Leider gibt es heutzutage häufig abfällige Bemerkungen, wenn Behandelnde ihre eigene Verletzlichkeit offenbaren. Dazu später mehr.
Der Archetyp des verwundeten Heilers in C.G. Jungs Lehre
Der verwundete Heiler hatte ebenso einen festen Platz in C.G. Jungs Beschreibung der Archetypen. Auch Jung verstand diese Persönlichkeit in dem Sinne, dass ein Heilkundler in dem Maße einen mitfühlenden Kontakt zu seinen Patienten oder Klienten bekommt, wie er sich seiner eigenen Verletzlichkeit (und damit auch Unvollkommenheit) bewusst ist. Mit anderen Worten, wie sehr er seine eigenen Verletzungen zu sich genommen und integriert hat. Das nachfolgende Zitat beschreibt dies mit unmissverständlicher Klarheit.
„Man könnte ohne allzu viel Übertreibung sagen, dass jede tiefer greifende Behandlung etwa zur Hälfte in der Selbstprüfung des Arztes besteht, denn nur, was er in sich selber richtig stellt, kann er auch beim Patienten in Ordnung bringen. Es ist kein Irrtum, wenn er sich vom Patienten betroffen und getroffen fühlt: nur im Maße seiner eigenen (integrierten, Anm. d.A.) Verwundung vermag er zu heilen. Nichts anderes als eben das will das griechische Mythologem vom verwundeten Arzt besagen“
C.G. Jung
Nicht zuletzt wegen dieses Wissens ist es in psychotherapeutischen Ausbildungen schon lange üblich, eine Methode nicht nur theoretisch zu erlernen und anzuwenden, sondern auch einen eigenen Prozess der Selbsterfahrung in dieser Modalität zu durchlaufen.
Warum die verkörperte Erfahrung so wichtig ist
Was in den indigenen Traditionen als altes Erfahrungswissen weitergegeben wurde, hat auch eine neurophysiologische Grundlage. Denn immer, wenn wir eine Krise meistern und im Nervensystem Ruhe einkehrt, speichert das Nervensystem den Lösungsweg. Und je größer die Herausforderung, die gemeistert werden kann, desto größer ist auch das Vertrauen in die eigene Kraft.
Dieses Vertrauen kann nicht als Methode gelernt werden, sondern entsteht auf der Grundlage des eigenen Erlebens.
Die verkörperte Erfahrung und der Zugang zur eigenen Kraft sind es also, die einen Heilkundler befähigen, mit seinem Klienten in eine unmittelbare Resonanz zu treten – und dieselbe Kraft auch in ihm zu wecken.
Auch für die Behandlerin ist es leichter, wenn sie während der Arbeit mit sich im Kontakt ist. Das bedeutet nicht, dass sie über sich berichtet. Sondern nur, dass sie weiß, was zu ihr und was zu ihrem Gegenüber gehört.
Die eigene Klarheit kreiert einen Raum, in dem sich der Patient mit seiner Befindlichkeit wahrgenommen fühlt. Dieses „sich gefühlt fühlen“ wirkt sich unmittelbar auf den therapeutischen Kontakt und damit auf den gesamten Prozess aus.
Wenn aber das (Selbst-)Mitgefühl nicht ausreichend vorhanden ist, wird dies oft deutlich spürbar.
Wenn das Selbst(mit)gefühl fehlt
Wo der Behandler in sich selbst Schmerz abwehrt, wird er dies auch in seinen Klienten tun und zu ihnen innerlich Distanz aufbauen. Damit meine ich die Art von hochprofessioneller Distanz, die über angemessene Grenzen hinausgeht und sich kühl und unverbunden anfühlt.
Dies ist für viele Klienten deutlich spürbar. Denn eine schauspielerische Beziehungsleistung von Therapeuten ist nicht dasselbe wie echter, eingestimmter Kontakt.
Hinzu kommt, dass für Behandlerinnen die Gefahr besteht, in Projektionen zu verfallen und bei den Klienten zu sehen, was zu ihnen selbst gehört. Auch dies geht zulasten des zwischenmenschlichen Kontaktes.
Wenn der Behandler nicht (ausreichend) mit seiner eigenen Verletzlichkeit in Kontakt ist, entsteht ein Gefälle. Die Patientin nimmt in sich dann überwiegend die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit wahr, der Behandler die Kraft. Dies kann einer therapeutischen Hybris Vorschub leisten.
Dann entsteht ein Behandlungsfeld, in dem die Kraft der Klientin marginalisiert und die des Behandlers überhöht wird. „Ich weiß, was für Dich gut ist“, ist dann die innere Haltung des Behandelnden. Sie geht eindeutig zu Lasten der Autonomie und Würde des Klienten.
Manch ein Behandler mag sich dann über die mangelnde Compliance (Einverständnis) seiner Klienten wundern, wo eigentlich ein Mangel an Einstimmung und Augenhöhe – und damit an Begegnung – herrscht.
Doch auch der Behandler verliert in dieser Konstellation. Wenn der Kontakt zur eigenen Begrenzung fehlt, besteht die Gefahr, über das eigene Potenzial hinaus zu handeln und sich damit auf Dauer zu erschöpfen.
Im Beruf dauerhaft eine Maske der Professionalität zu tragen, kostet Kraft. Damit meine ich nicht eine gut mit sich selbst verbundene berufliche Kompetenz, sondern eine berufliche Persona, die sich verselbstständigt hat.
Bei allem möchte ich betonen, dass es mir hier nicht um Perfektion, sondern um Verbundenheit und Menschlichkeit als innere Haltung geht.
Doch manchmal ist es gar nicht so einfach, die innere Spur aufzunehmen. Denn manche Rahmenbedingungen erschweren den Weg dorthin.
Trauma und Stigma im Gesundheitswesen
Für die meisten Kardiologen oder Gynäkologinnen ist es selbstverständlich, ihre Kolleginnen aufzusuchen, wenn sie Beschwerden haben. Für Psychiater oder Psychotherapeutinnen ist diese Schwelle oft größer, denn noch immer liegt auf psychischen Befindlichkeiten ein Stigma.
Die Aussage, dass Psychotherapeuten generell selbst belastet sind (hier einmal die „freundliche“ Ausdrucksweise), ist weit verbreitet. Und ja, viele Kolleginnen haben mit eigenen Verletzungen zu tun.
Doch haftet dieser oft abfällig vorgetragenen Aussage eine sehr negative Bewertung an, die meiner Meinung nach nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch kontraproduktiv ist. Denn sie trägt dazu bei, dass die Suche nach Unterstützung für viele in diesem Feld Tätige schwierig wird, weil sie mit Scham und Beschämung verbunden ist.
Gar nicht so selten wird die Suche nach Unterstützung dann in die nächste oder übernächste Stadt verlegt, weil kaum jemand seinen Ruf am eigenen Standort gefährden möchte. Oder weil er jemanden kennt, der jemanden kennen könnte …
Und auch am Arbeitsplatz kann es schwierig werden. Denn während es generell Mitgefühl für messbare oder sichtbare Erkrankungen gibt, liegt bei seelischen Wunden bisweilen der – oft unausgesprochene – Verdacht in der Luft, die betroffene Person würde simulieren.
Welch ein Unterschied zu der wertschätzenden Haltung zur Verletzlichkeit von Heilkundigen, die in den alten Traditionen vorherrschte!
So verhindern Angst und Scham häufig, dass betroffene Profis Unterstützung annehmen oder sich zu ihren Befindlichkeiten bekennen. Doch oft ist dies ein wichtiger Schritt der Selbstfürsorge und ermöglicht es, klare Grenzen zu definieren.
Die eigene Wunde – Helfen als frühe Prägung
Für viele Menschen, die sich später in Heilberufen oder im psychosozialen Bereich wiederfinden, ist helfen eine früh erlernte Fähigkeit.
Vielleicht sind sie Kinder wenig fürsorglicher oder kranker Eltern – oder ältere Geschwister in belasteten Familien. Oft haben sie bereits in jungen Jahren viel Verantwortung auf sich genommen.
Im Laufe der Zeit wurde ihnen das Helfen zur zweiten Natur. Vertraute und Versorgende der Eltern zu sein, ist Teil ihrer Identität geworden.
Später suchen sie im Heilberuf dann eine Konstellation, die diesem Verhaltensmuster entspricht. So können sie sich in der Verantwortung und Fürsorge für andere wieder sicher und bedeutsam fühlen. Das Terrain ist ihnen vertraut.
Leider kommt bei aller Verantwortung für andere das Gespür für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen oft zu kurz. Hier gilt es, den Blick nach innen zu wenden und die Richtung der Fürsorge von außen nach innen zu wechseln, um auch sich selbst gut zu versorgen.
Warum Bewusstheit der eigenen Wunden wichtig ist
Wenn hier der Blick nicht auch nach innen zur eigenen Verletzlichkeit geht, entsteht ein Gefälle, das die Gefahr einer therapeutischen Hybris birgt. Diese Haltung infantilisiert nicht nur die Klienten, sondern verschleiert auch den Blick auf die eigenen Grenzen.
Es besteht außerdem die Gefahr, immer wieder getriggert zu werden. Dann ist es wichtig, die Situation klar wahrzunehmen und entsprechend handeln zu können – nämlich, sich nach innen zu wenden und erst einmal sich selbst zu regulieren.
Wenn Helfen eine Kompensationsstrategie ist, die sich aus frühem Leid heraus verselbstständigt hat, kann dies auch mit einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit einhergehen. Denn die Betroffenen brauchen oft mehr Kraft, um zusätzlich zur Alltagsbewältigung auch noch ihren inneren Schmerz zu regulieren oder zu kompensieren.
Durch diesen Mehraufwand besteht dann eher die Gefahr, sich zu erschöpfen oder auszubrennen. Denn solange das Helfen unbewusst und ohne entsprechenden Ausgleich geschieht, ist der Energieverlust dauerhaft größer als die Regeneration. Mehr dazu in meinem Artikel über Burn-out und Burn-on.
Erschwerte Bedingungen für Verletzlichkeit im beruflichen Alltag
Leider ist es oft gar nicht so einfach, im beruflichen Alltag Raum für Verletzlichkeit zu finden. Denn der fällt häufig einer systemimmanenten hohen Leistungsorientierung und Funktionalität zum Opfer.
Dies alles beginnt bereits mit der Zulassung zum Studium vor allem der Fächer Medizin und Psychologie. Beide Fächer werden nach dem Notendurchschnitt vergeben. Hier findet bereits eine klare Selektion auf der Grundlage von intellektueller Leistung, nicht nach Soft Skills wie Mitgefühl statt.
Spätestens nach einigen Semestern in einem komplett verschulten System erleben und verinnerlichen die Studierenden, dass hohe Leistung absoluten Vorrang vor der eigenen Befindlichkeit hat. Fühlen wird im beruflichen Kontext zunehmend zum Fremdwort.
Eine Medizinstudentin erzählte mir in diesem Zusammenhang einen äußerst makabren Witz: „Was sagt ein Medizinstudent, wenn du ihm ein Telefonbuch hinhältst? – Bis wann?“ So ungefähr empfand sie ihren Lernalltag im Studium. Massen von Fakten auswendig lernen. Eine traurige Vorstellung.
Diese Gangart setzt sich nach dem Studium weiter fort. Berufsanfänger bekommen als günstige Arbeitskräfte in Ausbildungsinstituten und Kliniken sehr schnell sehr viel Verantwortung und werden „ins kalte Wasser geworfen“.
Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit in der Klinik einige Ärzte und Ärztinnen getroffen, die enttäuscht und frustriert waren, weil sie zu Beginn ihrer Laufbahn nicht wussten, wie wenig menschlichen Kontakt und wie viel Funktionalität der Alltag als Arzt mit sich bringt.
Doch wer so viel Zeit und Energie in die Karriere investiert hat, macht sich einen Berufswechsel nicht leicht. Insbesondere mit einem hohen Verantwortungsgefühl und eventuell auch der Angst vor Prestigeverlust oder finanziellen Einbußen.
Dann heißt es durchhalten – weitermachen im Überlebensmodus. Diese Qualität wirkt sich auf den gesamten Arbeitsalltag und auf den Umgang mit Patienten und Kolleginnen aus.
Auch in Pflegeberufen und im psychosozialen Bereich finden sich ähnliche Strukturen des Durchhaltens. Das möchte ich hier ebenfalls erwähnen, ohne genauer darauf einzugehen, weil ich darin nicht so tiefe Einblicke hatte.
Weil der Blick zum Anderen so tief verinnerlicht ist, geht Krankheit häufig mit Schuldgefühlen einher. Viele Menschen wollen ihre Kollegen nicht mit der Mehrbelastung zurücklassen. Sie gehen dann lieber krank zur Arbeit und nehmen sich nicht die Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Damit stellen sie ihre Selbstfürsorge oft lange zurück und verlieren stetig Kraft.
Generell ist die Arbeit im medizinischen, therapeutischen und psychosozialen Bereich anspruchsvoll und belastend, weil die Klienten nicht in ihrer Kraft sind und oft zu wenig Ressourcen (Personal, Zeit, Räume etc.) zur Verfügung stehen. Für Menschen, die so viel vom Leid der anderen mitbekommen, besteht daher auch die Möglichkeit der Sekundärtraumatisierung.
Selbstfürsorge im Überlebensmodus?
Es scheint, als ob der verinnerlichte Impuls zum Helfen mit all seiner Außenorientierung auch kollektiv immer wieder Umstände generiert, die den Blick nach innen verhindern. So setzt sich der Kreislauf immer weiter fort.
Der Widerspruch zwischen der Forderung nach Selbstfürsorge der Betroffenen und den teilweise entgegengesetzten Lern- und Arbeitsbedingungen (die zum Teil gesundheitsgefährdend sind) ist eklatant.
Hier braucht es nicht nur die individuelle Initiative, sondern definitiv auch eine Veränderung im System. Dennoch ist ein wichtiger Schritt, die eigene innere Verfassung zu realisieren und eine klare Bestandsaufnahme zu machen.
Die chronische Überlastung in den medizinischen und psychosozialen Berufen erinnert vom Stresslevel her an die Atmosphäre belasteter Elternhäuser, in denen sich Helferpersönlichkeiten entwickeln. Wie ist es möglich, unter derart ähnlichen Bedingungen eine gute Grenze zu halten und in seiner Kraft zu bleiben? Manchmal ist das ein ziemlicher Balanceakt.
Hinzu kommt auch noch, dass es schwierig und langwierig ist, eine passende (kassenfinanzierte) Psycho- oder Traumatherapie zu finden. Eigenfinanzierte Therapie ist eine kostspielige (wenn auch oft lohnende) Angelegenheit.
So werden durch das Zusammenspiel des eigenen hohen Verantwortungsgefühls und des systemisch bedingten Mangels an Spielraum und Ressourcen die eigenen Wunden oft nicht angeschaut und integriert.
Wenn gefühlt das Überleben weitergehen muss, ist einfach keine Zeit für Introspektion. Dazu braucht es Ruhe, Raum und ein ausreichendes inneres Empfinden von Sicherheit.
Erste Schritte der Integration
Doch an manchen Stellen zeigen sich auch erste Veränderungen, welche die eigenen Erfahrungen der betroffenen Profis wertschätzend integrieren.
Genesungsbegleiter nutzen ihre eigene Erfahrung, wenn sie ihren Klienten zur Seite stehen. Die Ex-In-Bewegung setzt ein klares Zeichen dafür, wie wertvoll die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit für andere Betroffene sein kann. Sie stellt einen Kontakt auf Augenhöhe zwischen Klienten und Begleitern her, ohne die Grenze zwischen beiden zu verunklären.
Und sie stellt das Erfahrungswissen der Begleiterinnen den Klienten zur Verfügung. Oft ist dies von entscheidender Bedeutung für das Vertrauen und damit auch für die Würde der Klienten.
Was braucht es für mehr Würde als betroffener Heilkundler?
Ein wichtiger Punkt, die Würde der Betroffenen zu stärken, ist es, Krisenerfahrungen von heilkundlichen Profis zu normalisieren. Statt Scham und Stigma zu generieren, ist es wichtig, Möglichkeiten für Heilung und Regulation zu schaffen. Krisen gehören zum Leben. Für alle Menschen.
Für einen Orthopäden mit einem Knochenbruch ist es alltäglich, seine Kollegin aufzusuchen. Für Menschen mit seelischen Wunden wäre niedrigschwellige Unterstützung ebenfalls wünschenswert.
Menschen in Heilberufen brauchen ein Alltagsumfeld, in dem es möglich ist, innezuhalten und in sich hinein zu spüren. Ohne diesen notwendigen Zwischenstopp treibt sich das gesamte System immer weiter in die Erschöpfung und brennt auch kollektiv aus.
Erfahrungswissen schafft Vertrauen. Manchmal ist es ein einziger Satz, der die Klienten Hoffnung schöpfen lässt und ihnen den Mut gibt, ihre nächsten Schritte zu gehen. Einfach, weil sie wissen, dass jemand vor ihnen einen ähnlichen Weg gegangen ist.
Ein klares Gespür für die eigenen Grenzen ist nicht nur in den Sitzungen von Vorteil. Es macht es auch möglich, den eigenen Alltag (beruflich und privat) eher nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten und dauerhaft kraftvoll zu bleiben.
Manchmal bedeutet dies auch, aus dem Hamsterrad auszusteigen und die äußeren Rahmenbedingungen oder den Beruf zu wechseln.
Erfahrung als Expertise
Für mich war im Zuge der erschwerten Arbeitsbedingungen während der Pandemie der Punkt erreicht, an dem das Gleichgewicht zwischen den beruflichen Anforderungen des Klinikalltags und der Möglichkeit, darin gut für mich zu sorgen, gekippt ist.
Ich habe mich für meine eigene Zartheit entschieden und freue mich jeden Tag darüber, dass ich meinen Arbeitsalltag nun ganz nach meinen Bedürfnissen gestalten kann. Dennoch war es kein leichter Prozess, diese Entscheidung zu treffen, und ich bin dankbar für alle Unterstützung, die ich in dieser Zeit hatte.
In dieser Veränderungsphase bin ich noch mehr mit meiner eigenen Verletzlichkeit in Kontakt gekommen – und konnte sie glücklicherweise annehmen. Auch dafür bin ich überaus dankbar.
Mit meiner eigenen Erfahrung als Betroffene und Therapeutin ist mir das innere Spannungsfeld sehr vertraut, das die Arbeit in diesem wunderbaren Beruf zu mit sich bringt.
Fazit
Als Heilkundler mit der eigenen Krisenerfahrung umzugehen, ist kein leichtes Unterfangen. Die inneren und äußeren Rahmenbedingungen machen den Weg nach innen manchmal recht beschwerlich.
Dennoch ist es nicht nur wichtig, sondern auch sehr lohnenswert. Zum einen, weil es für dich selbst und andere Begegnungen auf Augenhöhe möglich macht und so mehr Menschlichkeit in den Berufsalltag bringt.
Zum anderen, weil es dich mit deiner inneren Kraft in Kontakt bringt. So kannst du dein Leben mehr im Einklang mit deinen Bedürfnissen gestalten.
Und letztlich trägt jeder Heilkundler, der besser mit sich in Verbindung ist und das Herz für seine Verletzlichkeit offen hält, dazu bei, dass sich auch kollektiv etwas verändern kann.
Vielleicht hat dich dieser Artikel inspiriert oder Fragen aufgeworfen. Wenn du dir Unterstützung bei der Klärung wünschst und überlegst, ob ich dich eine Weile begleiten darf, schau dir gerne mein Angebot zu traumasensibler Prozessbegleitung an.
Bildnachweis
Ärztin hält Patientin die Hände –