Die Macht des Schweigens kann sich im Positiven wie im Negativen zeigen.
Gemeinsam in Harmonie wortlos nebeneinander zu sitzen oder zu gehen, kann ein starkes Gefühl der Verbundenheit auslösen. Doch Schweigen kann auch Ausdruck von Missbilligung, Aggression oder Hilflosigkeit sein.
Innerhalb von Beziehungen spielt es eine fundamentale Rolle, wie wir miteinander kommunizieren. Doch auch das Verhältnis zum Umfeld ist wichtig dafür, wie wir mit Konflikten im engeren Kreis umgehen können. Hier kommen die stummen Zeugen und ihre oft unterschätzte Bedeutung ins Spiel.
In diesem Artikel erläutere ich, warum Schweigen eine so enorme Auswirkung auf uns hat. Ebenfalls werde ich verschiedene Arten des Schweigens und der Mitwisserschaft beschreiben.
Denn Konfliktsituationen im Ganzen zu betrachten, ist wichtig dafür, auch die eigene Rolle darin besser zu erkennen – angemessen handeln zu können. Insofern ist dieser Artikel auch eine Hymne an die Zivilcourage.
Momente des Schweigens
Im Alltag schweigen wir aus vielfältigen Gründen. Vielleicht, weil wir einfach Ruhe brauchen oder dadurch interessanter und geheimnisvoller wirken wollen. Manchmal verbergen wir unsere Unsicherheit oder Unwissenheit, indem wir nichts sagen. Vielleicht fürchten wir auch, unser Gegenüber zu verletzen.
Wenn es in Gesprächen zu einer Pause kommt, ist das oft ein Moment, der uns unangenehm ist und Verunsicherung auslöst. Dann versuchen wir, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
In Business-Gesprächen und manchmal auch im privaten Kontext wird Schweigen gezielt als Taktik eingesetzt. Denn Schweigen bedeutet Macht.
Nicht ohne Grund heißt es „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Doch warum hat das Schweigen einen so enormen Einfluss auf uns?
Stimme und Sprache als Teil der Kommunikation
Wenn wir uns anschauen, über welche Kanäle zwischenmenschliche Kommunikation stattfindet, bekommen wir erste Hinweise darauf, wann wir uns angesprochen fühlen. Denn gegenseitiges Verstehen findet überwiegend körperlich statt. Ganze zwei Drittel der Kommunikation findet über die Körpersprache statt.
Immerhin ein Viertel der Botschaft erkennen wir über die Stimme. Die restlichen 7 % sind dann der reine Inhalt, also das, was wir über Messenger und E-Mails austauschen.
Damit wird auch klar, warum wir große Verbundenheit spüren können, wenn die körpersprachliche Kommunikation in Übereinstimmung ist. Das Meiste wird ohne Worte gesagt.
Körpersprachliche und stimmliche Ansprache – oder ihr Fehlen – haben also großen Einfluss auf unser Gefühl von Verbundenheit.
Ansprache und der Bindungsinstinkt
Als Kinder lernen wir, innere Stresszustände zu regulieren, wenn wir im gut eingestimmten, zugewandten Kontakt mit unseren Bezugspersonen sind. Diese Einstimmung erkennen wir hauptsächlich an der Körpersprache und an der Stimme. Ist sie ausreichend vorhanden, fühlen wir uns sicher und geborgen.
Fehlt diese Einstimmung, bedroht das unser Gefühl von Zugehörigkeit, die gerade in den ersten Jahren überlebenswichtig für uns ist. Die Folge ist ein chronisch hoher Stresslevel im Körper.
Als Kinder – und häufig auch später als Erwachsene – tun wir alles, um nicht in diese Stresszustände zu kommen – und passen uns an die Umgebung an. Mehr darüber findest du in meinem Blog über Entwicklungstrauma.
Weil wir sehr hohe Aktivierung im Nervensystem nicht gut alleine regulieren können (Selbstregulation), sind wir auch als Erwachsene auf Unterstützung von anderen, besser regulierten Menschen (Co-Regulation) angewiesen. Einfacher ausgedrückt: In der Not wollen wir uns instinktiv an jemanden wenden, um unser Leid zu lindern. Unser Bindungsinstinkt wird aktiv.
Reden und Schweigen in Beziehungen
Ob diese Hinwendung möglich ist, entscheidet darüber, ob wir unsere Beziehungen als emotional sicher erleben – oder nicht. Und damit auch, ob wir uns regulieren können. Das heißt, Verletzungen geschehen in Beziehungen und heilen ebenfalls in Verbundenheit.
Ist die Person, die wir aufsuchen, einfühlsam und zugewandt, braucht es oft nicht viele Worte, damit wir uns aufgehoben fühlen und so wieder in unsere innere Mitte zurückfinden.
Wenn wir jedoch kein eingestimmtes Gegenüber haben oder gar ein „feindliches“, wird der Stress eher noch größer. Denn nun haben wir nicht nur die ursprüngliche Situation zu verarbeiten, sondern auch noch die Einsamkeit oder gar Scham, die wir durch den Mangel an Einstimmung empfinden. Wir fühlen uns „gemeinsam einsam“.
Schweigen unterbricht Verbindung
Insofern kann Schweigen Ausdruck wortloser Übereinstimmung sein, ist aber häufiger ein Mittel der Macht. Als letzteres bedeutet Schweigen immer einen Beziehungsabbruch. Die angeschwiegene Person kann dadurch tief verunsichert werden, sich schuldig oder beschämt fühlen.
Dabei können die Gründe, warum eine Person schweigt, sehr vielfältig sein. Vielleicht ist sie hilflos und weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Oder sie schweigt, weil sie eigene Emotionen unterdrückt, die sie unangemessen findet. Möglicherweise setzt sie das Schweigen aber auch bewusst ein, um andere Menschen zu manipulieren.
Ein anderer wesentlicher Grund für das Schweigen ist die Angst, die Zugehörigkeit zu verlieren. Wenn alle Gruppenmitglieder eine andere Haltung haben, verhalten sich viele Menschen gruppenkonform, auch wenn es ihren tiefen Werten nicht entspricht. Niemand will der Gruppe verwiesen werden.
Schweigen als Bann: die emotionale Todesstrafe
Denn ausgeschlossen zu werden, bedeutet Hochstress für unser Nervensystem.
Wie machtvoll das kollektive Schweigen sein kann, zeigt sich auch in den Bräuchen alter Kulturen.
Wenn Menschen damals mit einem Bann belegt und aus der Gruppe ausgeschlossen wurden, bedeutete das oft ihren Tod. Nicht nur, weil sie alleine schlechtere Überlebenschancen hatten, sondern auch, weil die emotionale Isolation ihre Regulationsmöglichkeiten beschränkt hat.
In unserer (Cancel-)Kultur ist es überwiegend die emotionale Strafe, die wirksam ist. Doch auch diese wird von den Verbannten als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Denn Menschen sind nun einmal Bindungswesen und daher auf Kontakt und Zugehörigkeit angewiesen.
Das Tabu – der Elefant im Raum
Wo das Schweigen dominiert, leidet die Verbindung zueinander. Dies wird in Beziehungen spürbar, wenn etwa Konflikte verschwiegen werden. Die Beteiligten gehen dann oft miteinander um, als würden sie auf rohen Eiern laufen. Sie nehmen sich zurück auf Kosten von Spontaneität und Lebendigkeit, damit sie die heiklen Themen umschiffen.
Auch gut gehütete Familiengeheimnisse kreieren eine ähnliche Atmosphäre – und teils mächtige Tabus und Verhaltensregeln innerhalb der Familie. In der Folge werden deren Auswirkungen – wenn sie nicht gelöst werden können – als transgenerationales Trauma an die Kinder und Enkel weitergegeben.
Das Schweigen über Tabuthemen findet auch in anderen Gruppen statt. Homosexualität ist etwa im Herrenfußball immer noch ein No-Go und darf nicht offen benannt werden.
Auch eine Frau, die zufrieden verkündet, dass sie keine Kinder will, bricht damit ein Tabu. Nämlich, dass nicht alle Frauen einen Kinderwunsch haben und sich ein Leben als Mutter wünschen. Die oft wenig wertschätzenden Kommentare „wohlmeinender“ Mütter geben hier einen klaren Einblick in den kollektiven Wertekanon.
Die Macht des Schweigens damals– Entwicklungstrauma
Fassen wir noch einmal zusammen: Schweigen – also ein Mangel an Einstimmung oder eine gezielte Abwertung (silencing) – begünstigt die Entstehung von Entwicklungstrauma. Das Kind lernt, dass es immer wieder „ins Leere greift“ und hört eines Tages auf, um Unterstützung zu bitten.
Dabei müssen dies keine großen Anliegen sein. Auch viele kleine Erlebnisse der Ablehnung oder mangelnden Einstimmung kreieren diese Erfahrung. Man spricht hier auch von little t trauma – im Gegensatz zum big T Trauma, also den gravierenden Einzelerlebnissen wie Unfällen, Verlusten oder Operationen.
Wiederholt nicht „anzukommen“ prägt auch die spätere Befangenheit, nach Unterstützung zu fragen. Mit stummen Zeugen wiederholt sich später das Muster des Ins-Leere-Greifens.
Die Macht des Schweigens heute – sequenzielles Trauma
Im Erwachsenenalter haben wir sicherlich viel mehr Möglichkeiten, auf unangenehme Situationen zu reagieren und uns auch selbst zu regulieren. Dennoch gibt es das Phänomen des „ins-Leere-Greifens“ auch hier.
In Mobbing-Situationen in Partnerschaft, Schule, Beruf oder öffentlichem Raum erleben Betroffene, dass andere zusehen oder um die Situation wissen, aber dennoch nicht unterstützen. Damit wiederholt sich der Effekt und kann zum wiederkehrenden, also sequenziellen Trauma werden.
Auch hier ist jedes einzelne Ereignis nicht unbedingt sehr gravierend, wie die leicht spitze Bemerkung eines Kollegen, die dich zu der Frage bringt, ob sie überhaupt eine Antwort verlangt. Und die deshalb unkommentiert bleibt. Doch in der Summe verursachen diese oft subtilen Situationen dauerhaften Stress, vergiften die Arbeitsatmosphäre und machen den beruflichen Kontext zum unsicheren Ort.
Auch Alltagssexismus in Werbung, Social Media oder Filmen trägt durch seine beständige Präsenz dazu bei, dass viele Menschen (Frauen und Männer) Herabwürdigung und Objektifizierung als normal empfinden und eher nicht um Unterstützung bitten oder Hilfe anbieten, wenn eine massivere Grenzverletzung passiert.
Das Alltägliche gilt als normal und wird daher nicht (mehr) hinterfragt. Auch wenn das Hintergrundgefühl dazu eher ein diffuses Unbehagen ist. Hans-Joachim Maaz bezeichnet dieses Phänomen als Normopathie. Das Ungesunde wird als normal akzeptiert.
Die beständige Erfahrung einer toxischen Normalität führt so zu einer schleichenden Resignation, die das Vertrauen, in einer gravierenden Situation Unterstützung zu finden, erheblich erschweren kann.
The Silent Treatment
Im Englischen wird der Beziehungsabbruch durch Schweigen auch “the silent treatment“ – die stumme Behandlung genannt. Sie hinterlässt die angeschwiegenen Personen oft in Hilflosigkeit, Schuldgefühlen und tiefer Verunsicherung. Und bringt sie damit auch selbst zum Schweigen. Dies nennt man dann im Englischen silencing.
Spielarten des Schweigens
Doch nicht nur durch Wortlosigkeit oder Ignoranz werden Menschen zum Verstummen gebracht. Auch durch Leugnen oder Kleinreden der Situation werden Wert und Wahrnehmung der anderen Person infrage gestellt. Schweigen kann also auch einiges an (passiver) Aggression enthalten.
Im Folgenden werde ich einige Spielarten des Schweigens beschreiben. Häufig werden diese Wege gewählt, um Konflikte zu vermeiden, aber auch, um andere zu manipulieren.
Vielleicht will der Schweigende die andere Person nicht verletzen, erträgt aber eigentlich die mögliche Enttäuschung der anderen Person selbst nicht. Oder er hat Angst, dass sie verärgert reagiert und will sich dem nicht stellen.
Ghosting – plötzlicher Kontaktabbruch
Manche Menschen brechen ganz plötzlich den Kontakt ab und lassen nie wieder von sich hören. Oft hinterlässt der offene Ausgang und fehlende Abschluss beim Gegenüber eine tiefe Verunsicherung. Denn eine Klärung des Konflikts ist nicht möglich.
Caspering – das Ausschleichen
Andere Menschen wiederum lassen den Kontakt langsam ausschleichen. Sie lassen sich zunehmend mehr Zeit, um Nachrichten zu beantworten, bis die Antwort irgendwann ganz ausbleibt.
Gaslighting – manipulatives Schweigen
Diese Form, das Gegenüber zum Schweigen zu bringen, taucht häufig im Rahmen von narzisstischen Verletzungen auf. Hier wird die Wahrnehmung der anderen Person durch Leugnen oder Bagatellisieren infrage gestellt. Die Aggression ist hier offenkundiger.
Häufig fallen dann Sätze wie „Du bist aber auch so empfindlich“, „Das hat er bestimmt nicht so gemeint“, „Das bildest du dir nur ein“, „Das war doch nur ein Scherz“ (nach einer verletzenden Äußerung) oder „Das habe ich so nicht gesagt, das hast du missverstanden“. Solche Sätze dienen der Täter-Opfer-Umkehr.
„Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“
Molière
Stumme Zeugen – gleichgültiges oder hilfloses Schweigen
Stumme Zeugen sind schweigende Beobachter einer Konfliktsituation, die sie selbst nicht gutheißen.
Sie sind nicht direkt in eine geladene Beziehungsdynamik involviert. Doch dadurch, dass sie sich heraushalten, erschweren sie es den anderen, aus der konflikthaften Dynamik auszusteigen. Mehr zum Thema Beziehungsdynamik findest du in meinem Blogartikel über das Dramadreieck.
Vielleicht greifen sie nicht ein, weil sie selbst hilflos, verängstigt oder gleichgültig (emotional nicht verbunden) sind.
Damit verhindern sie indirekt auch, dass sich die Situation verändern kann. Die Personen in der Drama-Dynamik haben keine Möglichkeit, sich in ihrer Not an eine unterstützende Person zu wenden. So läuft der Bindungsinstinkt, der in Notsituationen aktiviert wird, ins Leere.
Wenn kein stummer Zeuge zugegen ist, kann unser Nervensystem die Konfliktsituation klarer einschätzen. Wenn jedoch Mitwisser anwesend sind, wird die Verweigerung der Unterstützung oft als tiefer Verrat empfunden. Dieser wiegt in der Seele oft schwerer als die eigentliche Konfliktsituation.
In der Folge werden die Betroffenen mit jeder Wiederholung resignierter, weil keine Co-Regulation stattfindet und sie die Stresssituation nicht verarbeiten können. Sequenzielles, also wiederkehrendes Trauma kann die Folge sein.
Beispiele für stumme Zeugen
Stumme Zeugenschaft begegnet uns überall im Alltag. Das können Menschen in der U-Bahn sein, die mitbekommen, wie Eltern ihr Kind grob anfahren oder eine Person gemobbt wird – die aber nicht einschreiten.
Da sind die Unfallzeugen, die gleichgültig weitergehen oder das Handy zücken, anstatt zu helfen.
Manche Kollegen nehmen wahr, dass andere Personen gemobbt werden, mischen sich aber nicht ein, weil sie Angst haben, den eigenen Job zu verlieren.
Im Internet geht durch den fehlenden persönlichen Kontakt oft die Aggressionshemmung verloren. Damit wird Cybermobbing begünstigt. Und auch viele „kleine“ Sticheleien ergeben einen größeren Rahmen der Abwertung.
Wenn ein Elternteil nicht eingreift, während der andere emotionale oder körperliche Grenzen des Kindes verletzt, ist auch das stumme Zeugenschaft. Insbesondere dann, wenn das Verhalten der grenzüberschreitenden Person nicht nur stumm gebilligt, sondern entschuldigt oder gar gerechtfertigt wird.
Hier werden der Verrat und die Verlassenheit von den Kindern besonders heftig und vernichtend empfunden. Häufig wiegen sie schwerer als die ursprüngliche Grenzverletzung.
Als Randnotiz: Ein Kind, das Gewalt ausgesetzt ist, muss sich im Durchschnitt an sechs (!) Erwachsene wenden, bevor ihm geglaubt wird und es möglicherweise Unterstützung erhält. Wie mag sich ein Kind in dieser Situation fühlen?
Folgen des Schweigens
Wenn die Zeugen ihr Schweigen nicht brechen, polarisiert sich die Konfliktsituation noch stärker.
Denn die Täter erleben keine Konsequenzen für ihr grenzverletzendes Verhalten. Dadurch fühlen sie sich weiter machtvoll. Das kann sie ermutigen, weiterzumachen wie bisher, denn es gibt kein Korrektiv, keine Grenze.
Für die Opfer bedeutet dies, dass sie noch weiter in die Resignation gehen. Denn sie erleben keinerlei Unterstützung, obwohl Menschen zugegen sind. In der Gesellschaft anderer mit dem eigenen Leid allein zu bleiben, kann tiefste Gefühle der Einsamkeit, Scham und Selbstabwertung zur Folge haben.
Schweigen ist Zustimmung
Wie wir gesehen haben, reicht es nicht aus, innerhalb der Dynamik von Täter, Opfer und Retter nach Lösungen zu schauen, weil die stummen Zeugen einen so enormen Einfluss auf die gesamte Dynamik haben.
Christelle Schlaepfer weist in ihrem Blogartikel Mitwisser sind Möglichmacher darauf hin, wie wichtig die Integration der stummen Zeugen in den Lösungsprozess ist.
Auch Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges haben die Mitwisser als feste Größe in ihr Traumaviereck integriert, das ein wichtiger Bestandteil in der Traumapädagogik ist.
Meiner Meinung nach ist dies nicht nur im Umgang mit Kindern und Jugendlichen wichtig. Auch in der Welt der Erwachsenen ist es notwendig, den größeren Rahmen zu betrachten.
Denn Trauma ist kein Einzelschicksal, sondern geschieht in Beziehung, ist in einen größeren Rahmen eingebettet. Und je normaler ein Rahmen der Passivität oder Gleichgültigkeit erscheint, desto weniger wird er hinterfragt. Dennoch ist er wirksam.
Das Grundbedürfnis der Zugehörigkeit und die Angst vor Ausschluss können also bewirken, dass stumme Zeugen die Abwertung anderer Personen(-gruppen) mittragen – und so zur Aufrechterhaltung von Feindbildern beitragen.
Daher brauchen wir eine Konfliktkultur, die alle Beteiligten in die Lösung einbezieht und ihre Verantwortung würdigt – damit eine generelle Deeskalation und ein menschlicher Blick auf alle Beteiligten möglich werden.
Warum schweigen stumme Zeugen?
Was aber bewegt Menschen dazu, stumme Zeugen von Szenen zu werden, die sie selbst nicht gutheißen? Und nicht einzugreifen, obwohl sie kräftemäßig dazu in der Lage wären. Einer der Hauptgründe ist die Angst, ausgeschlossen zu werden.
Wie stark unser Bindungsinstinkt ist, habe ich weiter oben schon beschrieben. Unser Nervensystem gerät in Hochstress, wenn (gefühlt) unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedroht ist.
Menschen, die Zeugen von Mobbing oder anderen Konfliktsituationen werden, sehen diesen Stress auch unmittelbar am Beispiel der Opfer. Sie wollen nicht die nächsten sein, denen es so ergeht.
Oft finden sie die Konfliktsituation gar nicht in Ordnung. Doch die Angst, selbst ausgeschlossen zu werden, wenn sie nicht die Haltung der Gruppe einnehmen, lässt sie schweigen und passiv bleiben.
Aus der Sicht des Nervensystems gehen sie in eine Angststarre (freeze response) mit Gefühlen von Hilflosigkeit oder Ohnmacht, in die Resignation oder Gleichgültigkeit (Kollaps) oder in die Unterwerfung (fawn response). Im letzteren Fall passen sie sich an die Täter an, entschuldigen oder hofieren sie.
Dies gilt im kleinen Maßstab wie der Familie ebenso wie im großen Maßstab der Gesellschaft oder auch Staaten.
„Was sollen denn die (oder meine) Leute denken?“ Diesen Satz haben viele von uns schon oft gehört – und auch gedacht. Er wirkt sich in so vielen Familien und Peergroups aus, dass er quasi allgegenwärtig ist – leider auf Kosten eines menschlichen Blickes auf das Gesamtbild.
Andere Rahmenbedingungen
Doch nicht nur die individuelle Befindlichkeit, sondern auch äußere Rahmenbedingungen tragen dazu bei, ob Menschen in die Situation eingreifen oder sie stumm bezeugen.
Peter Fisher zeigte in seiner Meta-Analyse über den Bystander-Effekt, welche Bedingungen zur Mitwisserschaft beitragen – oder sie verringern.
Je gefährlicher eine Situation ist, desto eher sind Menschen bereit, zu helfen. Das heißt, wenn es um körperliche oder verbale (also sinnlich unmittelbar erfahrbare) Grenzverletzungen geht, oder der Täter noch anwesend ist, steigt bei den Menschen in der Umgebung der Stresslevel und veranlasst sie eher, zu handeln.
Das bedeutet aber auch, dass bei emotionaler Gewalt deutlich weniger Hilfe zu erwarten ist. Denn sie wird häufig körpersprachlich und ohne Worte ausgedrückt. Daher ist sie für Umstehende oft diffus und nicht klar zu erfassen, auch wenn die Anspannung deutlich spürbar ist.
Wenn geladene Situationen als „normal“ eingestuft werden (siehe weiter oben zum Thema toxische Normalität), wird ebenfalls weniger geholfen.
Je mehr Personen zugegen sind, desto weniger und langsamer wird geholfen. Die Verantwortung, hilfebedürftige Personen zu unterstützen, wird dann auf die anderen umstehenden Personen „verteilt“.
Der Weg aus dem Schweigen: Zivilcourage
Glücklicherweise fand Peter Fisher auch heraus, dass es nur eine Person braucht, die Hilfe anbietet, damit andere Menschen nachziehen. Wenn ein einzelner Zuschauer Mut fasst und in das Geschehen eingreift, ermutigt er durch sein Beispiel auch andere. Zivilcourage ist also ansteckend.
Das bedeutet nicht unbedingt, vehement gegen den Täter vorzugehen und sich damit selbst in Gefahr zu bringen. Wichtiger ist es, dem Opfer beizustehen und Unterstützung zu geben. Diese Verbindung ist oft ein wesentlicher Aspekt dafür, dass ein Heilungs- und Integrationsprozess in Gang kommen kann.
Die Verbindung wiederherstellen
Im Umgang mit geladenen Situationen ist es zunächst wichtig, zu erkennen, was gerade passiert. Um darin präsent zu bleiben, brauchen wir die Verbindung zu uns selbst. Erst dann sind wir mit unserer Kraft in Kontakt und können den Mut fassen, zu angemessen handeln.
Das bedeutet, als Zeuge aktiv zu werden und das Opfer zu stärken. Damit wird dem Täter seine Macht zu entzogen.
Innerhalb einer Dynamik, die von Schweigen geprägt ist, kann Handlungsfähigkeit auch bedeuten, nicht mehr zu verstummen und das Wort zu erheben. Oder, wenn dies nicht möglich ist, die Situation zu verlassen, statt immer wieder die innere Verbindung zu kappen und sich damit selbst zum Schweigen zu bringen.
Denn nur, wenn wir die Verbindung zu uns selbst halten können, also mit uns selbst im Dialog sind, gelingt auch die Verbindung mit anderen Menschen. Dann kann es ein erfüllendes und kraftvolles Erlebnis sein, gemeinsam zu schweigen.
Ich hoffe, ich konnte dir einen Einblick geben in die vielen Facetten des Schweigens und seine weitreichende Bedeutung in unserem Alltag. Vielleicht hast du auch Situationen wiedererkannt, die ich beschrieben habe.
Wenn du lernen möchtest, deinen inneren Botschaften zu lauschen und gut mit dir selbst im Kontakt zu sein, schau dir gerne meine Angebote zu Therapie und traumasensibler Prozessbegleitung an oder vereinbare ein kostenloses telefonisches Erstgespräch.
Bildnachweis
Schweigegeste –