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Unsere Erfahrungen werden bei Stress und Trauma anders im Gedächtnis gespeichert als im entspannten Zustand. Das Gedächtnis ist generell nicht einheitlich oder konstant, sondern verändert sich – je nach Gefühl.

Auch wenn wir uns nicht bewusst an bestimmte Erfahrungen erinnern können, sind sie doch immer über den Körper abrufbar. Wie wir unsere Erlebnisse in Erinnerungen verwandeln, erfährst du in diesem Beitrag.

Gedächtnis ist mehr als bewusste Erinnerung

Wenn wir über das Gedächtnis sprechen, denken viele Menschen an das, woran wir uns bewusst erinnern können. An Erlebnisse, die wir willentlich abrufen und chronologisch erzählen können. Zum Beispiel, wie die letzte Woche verlaufen ist.

Doch eigentlich prägen uns unsere Erfahrungen wesentlich tiefer. Dabei ist nicht nur das Gehirn, sondern auch der Körper beteiligt.

Kindheitsamnesie und der Hippocampus

An unsere ersten drei Lebensjahre haben wir keine bewussten Erinnerungen. Das hat damit zu tun, dass ein Teil des Gehirns, der Hippocampus, bei der Geburt noch nicht voll entwickelt ist und seine Tätigkeit demnach erst später aufnehmen kann. 

Der Hippocampus arbeitet wie ein Archivar, der Erlebtes vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis überführt. Mehr dazu kannst du in einem eigenen Blogbeitrag über die Neurobiologie von Stress und Trauma lesen.

Ungefähr im dritten Lebensjahr ist er dann so weit entwickelt, dass er die Informationen aus dem Körper und Stammhirn in bestimmte Regionen des Großhirns sortieren kann.

Doch auch wenn wir uns nicht bewusst erinnern können, werden sämtliche Erfahrungen, die wir in den frühen Lebensjahren machen, als Körpererinnerungen gespeichert.

Verschiedene Arten von Erinnerung

Was wir erleben, wird auf sehr unterschiedliche Weise gespeichert. Dabei geschieht die Prägung zunächst unbewusst über den Körper. Erst dann wird die Erinnerung ins bewusste Gedächtnis überführt.

Das implizite Gedächtnis

Das implizite Gedächtnis oder Körpergedächtnis ist dem Bewusstsein im Alltag nicht zugänglich. Es ist das Reich der Körperempfindungen (Interozeption), Sinneseindrücke und Emotionen. Auch unsere Lage im Raum (Propriozeption) gehört hierhin. 

Im – ebenfalls impliziten – prozeduralen Gedächtnis werden automatische Bewegungsabläufe und auch Notfallreaktionen gespeichert. Wenn wir beispielsweise Rad fahren, denken wir nicht darüber nach, wie wir das machen. Wir kennen den Bewegungsablauf und führen ihn unbewusst aus. Dann ist das prozedurale Gedächtnis aktiv. 

Auch wie wir uns in Beziehungen verhalten, ist im prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Denn in der Begegnung mit unseren nächsten Menschen haben wir Verhaltensmuster so lange wiederholt, bis sie uns buchstäblich „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind. Später wiederholen wir sie dann unbewusst.

Das emotionale Gedächtnis ist ebenfalls implizit. Hier ist abgelegt, wie wir uns während eines Erlebnisses gefühlt haben. Zum Beispiel, ob wir uns beim Radfahren wohlgefühlt haben oder Angst hatten. Wenn diese Erinnerungen sehr stressgeladen sind, können sie später als emotionale Flashbacks wie aus dem Nichts auftauchen, oft mit großer Intensität. 

Das explizite Gedächtnis

Das explizite oder deklarative Gedächtnis entwickelt sich erst in den ersten drei Lebensjahren. Es beinhaltet alles, was wir kognitiv wissen und sprachlich ausdrücken können. 

Dabei werden im semantischen Gedächtnis „Daten, Zahlen und Fakten“ abgelegt. Beispielsweise das Wissen darüber, was ein Fahrrad ist.

Im episodischen Gedächtnis wird die Erfahrung als chronologische Geschichte abgelegt, die wir bewusst abrufen und erzählen können. Das wäre zum Beispiel die Erinnerung an die letzte Radtour.

Wenn der Hippocampus die Erinnerungen verarbeitet und im Großhirn abgelegt hat, ist uns bewusst, dass unser Erlebnis einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende hat. Doch er kann nur dann seine Arbeit tun, wenn wir uns ausreichend sicher fühlen.

Der Körper speichert sämtliche Erfahrungen

Alle unsere Erlebnisse werden als Empfindungen und Emotionen im impliziten Gedächtnis gespeichert. Das trifft auch auf unsere Erfahrungen in den ersten Lebensjahren zu, wenn wir noch keine expliziten Erinnerungen bilden können. Unsere Persönlichkeit wird maßgeblich von unseren frühen, also vorsprachlichen Körpererinnerungen geprägt.

Auch unter traumatischem Stress werden Erinnerungsfragmente im Körper gespeichert, da der Hippocampus im Überlebensmodus nicht richtig arbeitet. Doch der Körper erinnert sich. Immer und allumfassend.

So können zum Beispiel Menschen, die körperliche Gewalt erleben mussten, später in ihrem Leben an chronischen Schmerzen leiden. Der Körper zeigt über die Symptome, was der Mensch an Leid erlebt hat. Auch, wenn er sich nicht bewusst daran erinnern kann. 

Auch körperliche Flashbacks, also kurzzeitig wie aus dem Nichts auftauchende Symptome können sich zeigen. Doch während der Körper sämtliche Erlebnisse speichert, kommen nicht alle Informationen im Großhirn an.

Das bewusste Gedächtnis bei Stress und Trauma

Im Überlebensmodus, also unter Stress, wird Erlebtes anders verarbeitet als in Ruhe.  Weil der Hippocampus dann nicht richtig arbeitet, kann die Erfahrung nicht vom impliziten ins explizite Gedächtnis überführt werden. 

Daher können viele Menschen, die unter chronischem oder traumatischen Stress leiden, sich nicht (gut) erinnern oder konzentrieren. Es gibt einfach kein komplettes Narrativ, sondern bestenfalls Fragmente von Erinnerung.

Bildlich gesprochen, kann der Archivar seine Arbeit nicht tun, und die Erlebnisse werden weder chronologisch sortiert noch im Archiv abgelegt.

Damit können wir das Erlebte nicht als gewesene Geschichte erzählen. Denn erst, wenn die Erinnerung im episodischen Gedächtnis gespeichert ist, bekommt sie einen Anfang, einen Verlauf – und ein Ende. Dann erst können wir realisieren, dass die Vergangenheit vorbei ist und dem Erlebten Sinn geben.

Unsere Erfahrungen bestimmen unser späteres Verhalten

Auch wenn wir uns an vieles nicht erinnern können: unsere Erfahrungen prägen uns und bestimmen unser Leben. Dabei schließen sich die Nervenzellen, die in einer bestimmten Situation gemeinsam aktiv sind, zu Netzwerken zusammen. Neurons that fire together wire together.

Denn bei der nächsten ähnlichen Situation können wir so schneller und effektiver handeln. Die Verbindung der Nerven-Netzwerke wird mit jeder Wiederholung stärker. Das also ist der körperliche Aspekt der „Macht der Gewohnheit“.

Wie machtvoll dieses Zusammenspiel wirkt, erleben wir zum Beispiel, wenn ein Lied oder Geruch bestimmte Erinnerungen in uns wachruft. 

Mein Großvater z.B. hatte eine Schuhfabrik, in der ich als kleines Kind gerne war. Ich erinnere mich noch gut an den beißenden Geruch nach Leder und Kleber. Und jedes Mal, wenn ich heute in eine Schusterwerkstatt komme, weckt der Geruch sofort wieder meine Erinnerungen an Opas Fertigungshalle.

Neuronale Netzwerke und innere Anteile

Was wir als innere Anteile bezeichnen, sind physiologisch betrachtet neuronale Netzwerke einzelner Erfahrungen. Diese Netzwerke, unsere gespeicherten Erinnerungen, werden wieder aktiviert, wenn wir uns in einer ähnlichen Situation befinden wie damals. Oder wenn wir daran erinnert werden. Oft verhalten wir uns dann wie in der Ursprungssituation.

Dabei ist spielt es keine Rolle, ob wir uns bewusst, also explizit erinnern. Denn im Körper sind sämtliche Erinnerungen implizit gespeichert. Wenn die bewusste Erinnerung fehlt, wird es allerdings schwieriger, unser Verhalten einzuordnen und eventuell zu modulieren. Dann reagieren wir eher „im Autopilotenmodus“ und werden leichter von unseren Emotionen überwältigt.

Dissoziation – wenn die bewusste Erinnerung fehlt

Je stressgeladener die Erfahrung damals war, und je weniger Handlungsmöglichkeiten wir hatten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Erfahrungen dissoziieren, also abspalten. Dissoziation ist ein machtvoller Schutzmechanismus. 

Die überwältigenden Empfindungen werden dann nicht ins episodische Gedächtnis überführt. Sie bleiben als Erinnerungsfragmente im Körpergedächtnis gespeichert und können später leicht durch Trigger abgerufen werden. Dann empfinden wir die alten Empfindungen im Hier und Jetzt und können nicht realisieren, dass das Erlebte wirklich vorbei ist.

„Sämtliche unserer Erfahrungen werden im Körper gespeichert, aber nur einige im bewussten Gedächtnis. Daher kann grundlegende Veränderung nur gelingen, wenn wir den Körper einbeziehen.“

Fluide Erinnerung – State-Dependent Memory

Oft glauben wir, unsere Erinnerungen seien konstant und jederzeit abrufbar. Doch tatsächlich verändert sich unser Gedächtnis je nach unserem inneren Zustand (State). 

Die Erinnerung an einzelne Erfahrungen wird mit den entsprechenden Zuständen verbunden, die wir währenddessen hatten. Waren wir entspannt oder gestresst, wird dieses Erregungsniveau gemeinsam mit der Erfahrung abgespeichert. 

Wenn wir nun heute in diesem Zustand sind, fallen uns die Erfahrungen ein, in denen wir uns ähnlich gefühlt haben. Wenn es uns gut geht und wir zufrieden sind, erinnern wir uns eher an schöne Erlebnisse. Sind wir traurig oder einsam, tauchen eher schmerzvolle und schwere Erinnerungen auf. Wir haben also nicht jederzeit Zugriff auf sämtliche Erinnerungen.

Auch unser Blick auf die Welt oder unsere Vorstellung von der Zukunft werden von unserem momentanen Zustand bestimmt. Wenn wir depressiv sind, sehen wir unsere Zukunft eher düster – und auch der heutige Tag wirkt grau und freudlos.

Die Intensität der gemachten Erfahrungen entscheidet ebenfalls darüber, wie sie gespeichert werden. Trauma geht stets mit einer hohen Intensität einher.
Zustände, die mit hoher Erregung im Nervensystem einhergehen, sind allerdings sehr vielfältig. Dies können stressige oder traumatische Ereignisse sein, aber auch intensive Glücksmomente oder Sexualität.

Daher ist es möglich, dass bei einem Menschen, der traumatischen Stress in sich trägt, z.B. durch sexuelle Aktivität die unangenehmen Gefühle des Traumas wieder wachgerufen werden. Auch dann, wenn das Trauma nicht im sexuellen Kontext stattgefunden hat. Der hohe Energiezustand im Körper weckt die impliziten Erinnerungen an den hohen Erregungslevel von damals. 

Weil die Gefahr besteht, dass dann belastende Erinnerungen wachgerufen werden, kann es für viele Menschen mit Traumahintergrund schwierig sein, Freude und Lebendigkeit zuzulassen.

Implizite Erinnerungen behutsam deuten

Durch die hohe Intensität kann es vorkommen, dass insbesondere in der Sexualität Verknüpfungen mit traumatischen Erlebnissen entstehen, die u.U. nichts mit sexueller Gewalt zu tun haben. Eine invasive medizinische Untersuchung, eine Beschneidung oder auch Schmerzen im Unterleib können ebenso Hintergrund der wachgerufenen Körpererinnerung sein wie ein sexueller Übergriff.

Wie damit deutlich wird, können auch scheinbar alltägliche Eingriffe ähnliche Reaktionen hervorrufen wie sexueller Missbrauch. Es ist also ratsam, auch diese Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und sehr behutsam und differenziert die impliziten Erinnerungsfragmente zu erforschen.

Wenn die bewusste Erinnerung erst später kommt

Wie wir gesehen haben, wird das explizite, bewusste Gedächtnis unter Stress beeinträchtigt. Oft werden Teile der Erfahrung oder auch das gesamte Erlebnis abgespalten (dissoziiert), damit das Leben weitergehen kann. 

Viele Menschen mit frühem Trauma haben keine oder nur wenige Erinnerungen an ihre Kindheit. Oft werden nur einzelne Erlebnisse erinnert, aber vielleicht nicht die entsprechenden Gefühle dazu.

Dissoziation ist ein mächtiger Schutzmechanismus, der sich erst lösen kann, wenn wir uns ausreichend sicher fühlen. Daher tauchen Erinnerungen an frühe traumatische Erlebnisse häufig erst im Erwachsenenalter auf – und dann oft als Fragmente. Das kann es für die Betroffenen schwierig machen, der eigenen Erinnerung zu trauen.

Veränderung gelingt auch ohne bewusste Erinnerung

Auch ohne bewusste Erinnerung sind Heilungs- und Entwicklungsprozesse möglich. Denn alle unsere Erfahrungen, Verhaltensmuster und Erlebnisse – nicht nur die traumatischen – sind im Körpergedächtnis gespeichert. Und nur ein kleiner Teil gelangt ins explizite Gedächtnis.

Damit grundlegende Veränderung möglich wird, brauchen wir den Körper und das implizite Gedächtnis. Dort liegt alles, was wir zur Heilung brauchen.

Wir spüren und wissen in der Regel genug, um die nächsten Schritte unserer Entwicklung zu gehen. Vor allem aber ist uns meist bewusst, wie wir in bestimmten Situationen handeln. Auch wenn wir nicht wissen, warum.

„Aufmerksames Spüren ist der Schlüssel zu Integration und Veränderung. Reden und Verstandeswissen ist dort hilfreich, wo es dem Fühlen dient. Aber es ersetzt keinesfalls das innere Erleben.“

Wenn wir unsere mitfühlende Aufmerksamkeit auf unser Verhalten und unseren Körper richten, entsteht eine neue innere Beziehung. So können wir uns allmählich unseres inneren Erlebens bewusst werden und so das Implizite explizit machen

Damit ist es nach und nach möglich, die einzelnen Fragmente zusammenzufügen und zu integrieren. Dazu muss nicht jedes noch so kleine Ereignis aufgearbeitet werden. Wenn der Hippocampus wieder mitarbeitet, können wir hier und jetzt begreifen, dass die Geschichte von dort und damals nun ein Ende hat.

Wenn wir den Sinn darin finden, wie wir denken, handeln und fühlen, können wir inneren Frieden finden. Dann wird es auch leichter, die immer gleichen Verhaltensmuster zu verlassen und neue auszuprobieren.

Ich hoffe, ich konnte dir einige Einblicke darüber geben, wie lebendig und vielfältig unser Gedächtnis ist. Wenn du Interesse hast, mit mir zu arbeiten, schau dir gerne meine Angebote zu körperorientierter Psychotherapie, Traumatherapie und traumasensibler Prozessbegleitung an.

Bildnachweis
Mädchen schaut Fotoalbum an –

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