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Hochfunktionalität wird oft nicht als solche erkannt. Denn im Leben der betroffenen Menschen läuft ja alles – anscheinend. Doch oft sieht es unter der unauffälligen Oberfläche ganz anders aus. Was darunter liegen kann und wie ein möglicher Weg in die Lebendigkeit aussehen könnte, beschreibe ich in diesem Artikel.

Hochfunktionalität – der Mensch dahinter wird oft nicht erkannt

„Aber du hast doch alles, warum bist du denn so unzufrieden – oder traurig?“ „Wie du das nur immer alles unter einen Hut bringst!“ Das sind typische Sätze an Menschen, die in ihrem Alltag hochfunktional unterwegs sind.

Eigentlich scheint alles in Ordnung zu sein. Der Alltag läuft, der Beruf auch. Es gibt vielleicht Familie, Hobbys, Beziehungen und Freundschaften. Geld ist auch genug da. Selbst komplexes Multitasking wird bravourös gemanagt. Von außen sieht alles normal aus.

Doch es fehlt an echter Freude und Lebendigkeit. Es gibt dieses leise Gefühl der inneren Leere. Und das Leben fühlt sich für manche eher wie Durchhalten oder Durchbeißen an.

Hinter der hohen Funktionalität kann sich einiges an Belastung und Leid verbergen. Manche Menschen wenden sehr viel Kraft auf, um ein „normales“ Leben zu führen. Um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, sich verbunden zu fühlen, nicht außen vor zu sein. Oder besser zu sein als die anderen.

Wenn das „gelingt“, sieht von außen alles normal aus. Aber die scheinbare Normalität hat oft einen sehr hohen Preis. Denn diese Menschen verlieren die Verbindung zu sich selbst.

Mögliche Ursachen für Hochfunktionalität

Hochfunktionalität kann verschiedene Ursachen haben. Manchmal zeigt sie sich bei Menschen mit Asperger-Autismus oder AD(H)S.

Auch bei Menschen mit Traumafolgen kann sich ein leistungsorientiertes, hochfunktionales Verhalten als Kompensationsstrategie entwickeln. Darum soll es in diesem Artikel gehen.

Ängste und Depressionen sind häufige Begleitsymptome von Trauma. Manchmal verbergen sie sich hinter einem hohen Funktionsmodus. Der Zusammenhang zwischen AD(H)S und frühkindlichem chronischem Stress wird ebenfalls immer wieder in der Literatur erwähnt.

Das Gemeinsame dahinter: das Nervensystem

Auch wenn es verschiedene Themen gibt, die sich hinter der Hochfunktionalität verbergen können, haben sie doch eine gemeinsame Ursache: ein chronisch übererregtes Nervensystem.

Wir alle suchen in unserem Leben nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Entfaltung. Besonders in den ersten Lebensjahren ist das überlebenswichtig. Denn Kinder sind auf Unterstützung angewiesen und geraten in Hochstress, wenn diese nicht (ausreichend) da ist. 

Damit sie weiter verbunden bleiben können, passen sich Kinder perfekt an ihre Umgebung an. Sie tun, was die Bezugspersonen zufriedenstellt, damit sie geliebt und nicht verlassen werden. Darüber verlieren sie oft das Gefühl für sich selbst.

Wenn dieser Stress nun chronisch wird, haben sie keine Gelegenheit, wieder in Ruhe zu kommen und Sicherheit zu spüren. Die Stresshormone im Körper werden nicht abgebaut und signalisieren permanente Gefahr an das Nervensystem.

Das stellt sich auf die potenzielle Bedrohung ein und aktiviert immer wieder aufs Neue die instinktiven Überlebensreaktionen. Das Nervensystem kann also nicht in Ruhe kommen. (siehe dazu auch meine Blogartikel zu Polyvagaltheorie und Stress, Trauma und das Gedächtnis.)

Was bei chronischem Stress passiert

Wenn das Nervensystem im Daueralarm ist, greifen die Überlebens- und Anpassungsstrategien, die wir in unseren frühen Jahren entwickelt haben. Je öfter wir damit stressige Situationen meistern, desto mehr festigen sich diese Verhaltensweisen und werden automatisch abrufbar.

Wenn wir beispielsweise gelernt haben, uns besonders anzustrengen, alles richtig zu machen, immer „die extra Meile zu gehen“, alles perfekt abzuliefern oder für die anderen da zu sein und uns selbst zurückzustellen, können diese vegetativen Gewohnheiten zum Lebensstil werden.

Leider führt die permanente Außenorientierung dazu, dass wir den Kontakt zu uns selbst verlieren. Wenn wir aber nicht wissen, was wir brauchen, und nicht tun, was uns erfüllt und nährt, fühlen wir uns innerlich leer und abgeschnitten.

Außerdem fühlt sich der Zustand der Übererregung oft vertrauter an als ein Zustand der Ruhe und Regulation. Wer viel Stress / Adrenalin gewohnt ist, kann sich unwohl fühlen, wenn es ruhiger wird. Damit treibt sich die Unruhe selbst immer wieder an.

Wie kann sich Hochfunktionalität zeigen?

Für Menschen im Zustand der Hochfunktionalität fühlt sich das Leben oft eher wie Überleben an. „Wie geht’s dir? Muss ja!“ ist eine klassische Beschreibung.

Oft haben sie Selbstzweifel. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Imposter-Syndrom. Auch wenn sie ihre Aufgaben gut erfüllen können, glauben sie, dass sie nichts können.
Manchmal gibt ihnen das Gefühl, etwas zu schaffen oder zu leisten, auch eine gewisse Selbstbestätigung. Doch wenn sie nichts tun, hält sie nicht an.

Sie haben hohe Ansprüche an sich selbst und andere. Durch ihren Hang zum Perfektionismus neigen sie auch zu (Selbst-)Kritik. Wegen der chronischen Übererregung sind sie schnell gestresst oder überbeansprucht, rasch irritierbar oder wütend.

Weil das Nervensystem hochtourig läuft, haben sie Schwierigkeiten, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Auf die Dauer kann dieses Missverhältnis zu einem niedrigen Energielevel oder Erschöpfung führen.

Vielleicht erleben sie kurzzeitig Spaß, der sich aber eher anfühlt wie ein Strohfeuer, das schnell verglimmt. Doch es ist schwierig, tiefe Freude und Erfüllung zu empfinden. Manchmal empfinden sie Trauer wie ein leises Hintergrundgefühl in ihrem Leben.

Leistung und Einsamkeit

In unserer Gesellschaft, in der Leistung einen hohen Stellenwert hat, bekommen hochfunktionale Menschen viel Anerkennung für ihre Anpassungsstrategien. Dabei wird jedoch schnell übersehen, wie sie sich in ihrem Inneren fühlen. Oft ist es ihnen selbst auch gar nicht bewusst.

Manche Menschen jedoch spüren vielleicht, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen dem äußeren Schein des High Performers oder der Familienmanagerin und dem inneren Empfinden von Unzulänglichkeit, das die Funktionalität antreibt. Doch mit steigender Anerkennung für die erbrachte Leistung wird es immer schwieriger, sich zu zeigen, weil auch die Scham wächst.

Wenn sie es dennoch wagen, verstehen die Menschen in ihrem Umfeld (und manchmal auch professionelle Helfer) vielleicht gar nicht, warum sie sich schlecht fühlen. Denn sie „haben ja alles“ oder „Sie sind doch stabil und haben eine gute Alltagsstruktur.“

Bedauerlicherweise ist „Alles“ oft nicht das Eigene. Durch die Entfremdung von ihren eigenen Bedürfnissen und den Mangel an Unterstützung fühlen sich hochfunktionale Menschen dann noch isolierter und einsamer.

Mehraufwand für Normalität

Mit einem chronisch übererregten (dysregulierten) Nervensystem einen „normalen“ Alltag zu bewältigen, kann sich wie eine Herkules-Aufgabe anfühlen. Es gibt auch Menschen, die sich aus ihrem hohen Anspruch heraus einen High Performance-Alltag schaffen. Beides kann eine dauerhafte Überanstrengung darstellen, die eventuell auch in den Burn-out führen kann.

Der Zustand dauernder Mehranstrengung, also permanent kurz vor der völligen Erschöpfung zu leben und sich gerade eben noch zu halten, wird von Bert te Wildt und Timo Schiele in ihrem gleichnamigen Buch auch Burn-on genannt.

Mehr zum Thema Burn-out und Burn-on kannst du bald in einem anderen Blogartikel lesen.

Was hilft, aus dem Funktionsmodus zu kommen?

Der erste Schritt aus dem Hamsterrad ist: langsamer werden, innehalten und spüren. Leider ist dies für viele Menschen erst möglich, wenn der Körper eindeutige Signale der Erschöpfung sendet. Wenn also deutlich wird, dass sie ihren Funktionsmodus nicht mehr lange aufrechterhalten können und kurz vor dem Burn-out stehen. Oder schon hineingeraten sind.

Um überhaupt regenerieren zu können, ist es wichtig, zunächst das Nervensystem zu regulieren. Erst wenn im Körper ankommt, dass die Gefahr von damals vorbei ist, kann ein Empfinden relativer Sicherheit entstehen. Dann ist es auch möglich, wieder Kraft zu schöpfen.

Aus dem Zustand relativer Gelassenheit und damit auch Selbst-Sicherheit wird es dann leichter, die innere Befindlichkeit zu spüren und sich zunehmend danach auszurichten.

Wo das Leben zuvor von „schnell und viel“ geprägt war, ist es wichtig, dem Nervensystem Zeit und Raum zu geben. Nicht nur in den Sitzungen, sondern auch im Alltag. Dann kann es sich nachhaltig umstimmen.

Wohin es gehen kann

Wenn es gelingt, aus dem Überlebensmodus in einen regulierten Zustand zu kommen, wird es leichter, zu spüren, was du brauchst und dafür zu sorgen, dass du es bekommst. Du lernst, bessere Grenzen zu setzen, auch deinen inneren Antreibern gegenüber. So kannst du dir zunehmend ein Leben gestalten, dass deinen eigenen Bedürfnissen entspricht, anstatt – fremde oder eigene – Erwartungen zu erfüllen.

Wenn du lernst, innezuhalten, kannst du eher Pausen machen und so in der Kraft zu bleiben. Du lernst, Zeiten für Muße und Selbstfürsorge einzuplanen. Sobald sich nicht mehr alles wie ein To-do anfühlt, und du mehr Zeit hast, spielerisch an Dinge heranzugehen, könnte es auch sein, dass sich Freude einstellt – am Tun und auch an dir selbst. Dann wird es wahrhaftig lebendig statt getrieben.

Wenn du dich in dir selbst wohler fühlst, weil du mehr im Einklang mit dir selbst lebst, wirkt sich das schließlich auch positiv auf deine Beziehungen aus – und damit auf dein Gefühl, mit dir und der Welt verbunden zu sein.

Ich hoffe, ich konnte dir einige Einblicke und Erkenntnisse geben. Wenn du Interesse hast, mit mir zu arbeiten, schau dir gerne mein Angebot zur traumasensiblen Prozessbegleitung an oder buche ein kostenloses telefonisches Erstgespräch.

Bildnachweis
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