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In der Arbeit mit inneren Anteilen sind Mitgefühl und Wertschätzung essenziell. Wenn wir unseren eigenen Facettenreichtum anerkennen, fällt es uns leichter, uns innewohnende Konflikte zu lösen und Frieden in uns zu schaffen. So werden Heilung, Integration und Entwicklung möglich.

In diesem Artikel schreibe ich über die Grundlagen der Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. Du erfährst, wie sich Anteile bilden, wie du mit ihnen in Beziehung treten kannst und wie das zur Heilung beitragen kann.

Vielfalt ist unsere Natur

Innere Vielfalt gehört zu unserer menschlichen Natur und ist keinesfalls pathologisch. Wir alle erleben in uns ein Spektrum verschiedener Zustände und Empfindungen. 

Kennst Du vielleicht das Gefühl, Heißhunger auf Schokolade oder Chips zu haben und gleichzeitig die mahnende Stimme zu hören, die sich um Deine Gesundheit sorgt? Dann sind verschiedene innere Anteile in Dir aktiv.

Unsere Persönlichkeitsanteile können sich in ihrem Erleben und ihrer Handlungsweise sehr unterscheiden. Während ein Teil abenteuerlustig in die Welt will, um Neues zu entdecken, kann es einen anderen geben, der sich lieber zurückziehen und erholen will. 

Einige dieser Facetten sind unterstützend, andere hinderlich, manche wirken sogar destruktiv. Einige funktionieren sehr gut im Alltag und haben den Überblick. Andere sind wie Kinder, und wieder andere sind impulsiv und extrem.

Persönlichkeitsanteile sind also ein zutiefst menschliches Phänomen, das schon sehr lange bekannt ist und in vielen Richtungen der Heilkunst, der Psychotherapie und im Coaching Ausdruck gefunden hat. 

Innere Anteile in Heilkunst, Therapie und Coaching

Bereits in uralten Heilmethoden wie dem Schamanismus geht es im Wesentlichen darum, verlorene Seelenanteile in das Bewusstsein zurückzuholen und zu integrieren. Die Arbeit mit Teilaspekten der Persönlichkeit ist also keine Neuigkeit.

Im Bereich der Psychotherapie beschrieb Sigmund Freud zunächst Unbewusstes, Vorbewusstsein und Bewusstsein, aus dem dann später Es, Ich und Über-Ich wurden. Sein Schüler C.G. Jung entwickelte die Idee weiter und beschrieb die Archetypen und Komplexe.

Die hypnotherapeutischen und systemischen Ansätze lieferten in den 1950er Jahren die theoretische Basis für eine Vielzahl weiterer Methoden der Anteilearbeit in Therapie und Coaching.

In der Gestalttherapie beschrieb Fritz Perls Top-Dog und Under-Dog. Diese Idee fand später – neben einigen anderen – in der Verhaltenstherapie Platz. Es entwickelte sich daraus die Schematherapie.

Auch die Ego-State-Therapie, die von John und Helen Watkins begründet wurde, basiert auf der Annahme von Persönlichkeitsanteilen, den Ego-States. Virginia Satir entwickelte mit der Parts Party ebenfalls ein Format zum Dialog mit inneren Anteilen.

Die Arbeit mit dem inneren Kind wurde durch John Bradshaw bekannt und findet sich in vielfältigen Therapie- und Coachingmethoden wieder, u.a. in der Traumaarbeit PITT, die von Luise Reddemann entwickelt wurde. Auch die Arbeit mit Sonnenkind und Schattenkind, die Stefanie Stahl kreiert hat, hat hier ihren Ursprung.

Im Coaching wird ebenfalls mit inneren Anteilen gearbeitet, beispielsweise mit dem inneren Team (Schulz von Thun), mit inneren Antreibern oder gar Saboteuren. Auch das von Dr. Hal und Sidra Stone entwickelte Voice Dialogue basiert auf einem Konzept der inneren Vielfalt.

Aus der systemischen Familientherapie hat Richard Schwartz in den 1980er Jahren die Arbeit mit dem System der inneren Familie (IFS = Internal Family Systems) entwickelt. Da ich die würdigende Haltung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, sehr schätze und auch mit dieser Methode arbeite, werde ich im Folgenden aus dieser Perspektive die Arbeit mit inneren Anteilen beschreiben.

Verbundenheit durch Differenzierung innerer Anteile

Das Phänomen der Persönlichkeitsanteile findet sich also in vielen Methoden wieder und scheint etwas sehr Grundlegendes zu berühren: Zum einen, dass der Mensch von Natur aus vielfältig ist. Zum anderen, dass die Unterscheidung (Differenzierung) verschiedener Anteile es möglich macht, mit ihnen in Beziehung zu treten.

Diese innere Beziehung bildet das Kernstück der Arbeit mit inneren Anteilen. Wo es sie nicht gibt, sind wir mit unseren Teilen identifiziert und handeln gewissermaßen im „Autopilotenmodus“. Wo sie gelingt, etablieren wir eine Dirigentin für unsere inneres Orchester. Doch wie erreichen wir die Differenzierung unserer Anteile?

Wie trete ich zu meinen Anteilen in Beziehung?

Im Grunde genommen ist die Methode sehr einfach (im Sinne von simple, but not easy). Wenn ich statt „Ich bin wütend“, sage: „Ein Teil von mir ist wütend“, gibt es gleichzeitig in mir eine innere Instanz, welche die Wut wahrnimmt, die ich spüre – und nicht damit identifiziert ist. Die Betrachtungsweise aus der Anteile-Perspektive stärkt also den inneren Beobachter.

Auf diese Weise entsteht eine Beziehung zwischen beiden inneren Instanzen. Und dadurch, dass die eine wahrnimmt, was die andere fühlt, ist die erstere weniger mit dem Gefühl identifiziert. So ist auch es leichter möglich, Emotionen zu fühlen, ohne von ihnen überwältigt zu werden

Wenn dies gelingt, kann ich also Wut spüren, ohne die Wut zu sein. Gleichzeitig kann ich in der aktuellen Situation angemessen handeln, ohne die Wut abzuspalten. Dann kann ich bildlich gesprochen für mein inneres Kind da sein, ohne von ihm komplett ausgefüllt zu sein und kindlich zu handeln.

Bewusste Differenzierung der inneren Anteile ist also etwas ganz anderes als Abspaltung von schwierigen Teilaspekten in unbewusste Bereiche. Differenzierung führt zu mehr interner Verbundenheit, während Abspaltung zu Fragmentierung und Unverbundenheit führt.

Der innere heile Kern

Die Differenzierung unserer Anteile bringt auch zunehmend eine Haltung zum Vorschein, die im IFS das Selbst genannt wird. Auch wenn wir es nicht immer spüren, wir alle haben diesen inneren heilen Kern, der selbst größte Belastungen unversehrt übersteht.

Nicht alle Richtungen der Anteile-Arbeit beinhalten diese Idee. In vielen spirituellen Traditionen gibt es aber – unter anderen Namen – Konzepte für unseren inneren heilen Kern, die dem Selbst ähnlich sind. Atman, Buddha-Natur, Christusbewusstsein, Essenz oder inneres Licht sind einige davon.

Aus der eigenen Mitte heraus führen

Die Haltung des Selbst beinhaltet Qualitäten wie Mitgefühl, Interesse, Gelassenheit, Klarheit, Mut und Verbundenheit. Kurzum: Lebenszugewandtheit.

Die Arbeit mit den Anteilen zielt also darauf ab, zunehmend aus dieser Haltung heraus das eigene Leben zu gestalten, anstatt von bisher nicht integrierten Anteilen „übernommen“ zu werden.

Selbstführung bedeutet in diesem Zusammenhang, sich den inneren Anteilen mitfühlend zuzuwenden und für sie zu handeln, statt durch sie. Doch wie kann es gelingen, mit ihnen in Kontakt zu kommen?

Den Anteilen mitfühlend begegnen

Auch wenn es sich vielleicht zunächst etwas seltsam anhört: es ist leichter, zu den Anteilen eine Beziehung aufzubauen, wenn wir sie als innere Persönlichkeiten ansehen, die sich von uns unterscheiden.

Mitgefühl für das wütende Mädchen zu empfinden, das damals so schwierige Erfahrungen machen musste und dagegen protestiert, fällt uns leichter als mit einer Idee, die abstrakt und entkörpert bleibt.

Wenn wir uns rein mit Ideen oder Glaubenssätzen beschäftigen, findet die Auseinandersetzung wahrscheinlich überwiegend im Intellekt statt. Dann ist die linke Hirnhälfte aktiv. Verstehen hat aber nicht gleichen Effekt auf unsere Innenwelt wie fühlen, also über die rechte Hirnhälfte in Kontakt zu gehen. 

Was die innere Beziehung stärkt, ist Mitgefühl. Unsere größte Sehnsucht (ja, auch die unserer Anteile) war und ist es, uns gefühlt zu fühlen – so formuliert es Daniel Siegel. Gefühlt und ganz erfasst. Mehr dazu erfährst Du in meinem Beitrag über Entwicklungstrauma.

Wenn wir uns unsere Anteile als Teilpersönlichkeiten vorstellen und ihre Wesenhaftigkeit spüren, wird es leichter, sie ganz zu erfassen und uns auf sie zu beziehen. So können wir dann dem kleinen Mädchen die Wut und den Protest lassen, ohne davon vereinnahmt zu werden.

Mitgefühl fällt uns also leichter, wenn die Anteile konkret erlebbar werden – körperlich, räumlich, emotional und auch in ihrer Funktion. Dann können wir leichter eine Beziehung zu ihnen aufbauen.

Arbeit mit inneren Anteilen ist innere Bindungsarbeit

Letztendlich sind es immer Beziehungen, die prägen, wie wir werden. Beziehungen, in denen wir Vertrauen und Verbundenheit erleben, Beziehungen, in denen Verletzungen geschehen und Beziehungen, in denen wir heilen können. Siehe hierzu auch meinen Blogartikel über Bindungstrauma.

Wenn es uns gelingt, mit unseren inneren Anteilen in Kontakt zu kommen und eine verlässliche Beziehung zu ihnen aufzubauen, stärkt das den inneren Zusammenhalt, die Kohärenz. Daher bezeichne ich die Anteilearbeit gerne als innere Bindungsarbeit.

Wie entwickeln sich innere Anteile?

Innere Anteile können sich in jedem Lebensalter bilden. Doch unsere Persönlichkeit wird maßgeblich von den Teilen bestimmt, die wir in unseren frühen Lebensjahren entwickeln.

Jeder Mensch wird in eine Umgebung hineingeboren und muss sich an sie anpassen, um darin die größtmögliche Sicherheit und Zugehörigkeit zu finden. Das sichert sein Überleben. Je nachdem, welche Gegebenheiten er vorfindet, bildet er daher unterschiedliche Anteile aus.

Wenn der äußere Rahmen sicher (genug) ist, geht dies überwiegend mit angenehmen Gefühlen einher. Doch auch in einer liebevollen Umgebung wird ein Kind frustriert, wenn ihm Grenzen gesetzt werden. Es muss dann mit seinen Gefühlen von Trauer, Wut oder Scham zurechtkommen. 

Wenn es dabei liebevoll unterstützt wird, bilden sich Anteile, die sich gut modulieren lassen. Das innere System ist dann gut integriert, die Anteile miteinander verbunden. Der Mensch fühlt sich sicher, ist flexibel und handlungsfähig.

Trauma und innere Anteile

Unter schwierigen Bedingungen werden die Anteile als buchstäbliche Überlebensstrategien extremer.  Denn sehr belastende Situationen gehen mit höchst unangenehmen bis unaushaltbaren, weil (lebens)bedrohlichen Gefühlen einher, die andere Maßnahmen erfordern.

Je unangenehmer die Gefühle sind und je weniger Unterstützung ein Mensch hat, damit zurechtzukommen, desto extremer werden folglich auch die Strategien, mit ihnen umzugehen. Das innere System wird dann oft fragmentiert und unverbunden, starr und unflexibel. Damit gibt es wenig Spielraum für neue Verhaltensweisen.

Je höher also der Stress in der Situation ist, desto extremer prägen sich auch die inneren Anteile aus. Welche Qualitäten sie entwickeln können, werde ich weiter unten im Text beschreiben.

Das innere Kind in der Teilelandschaft

Ihrem ursprünglichen Wesen nach sind Kinder offen, neugierig, vertrauensvoll und lebensfroh. Werden sie verletzt oder vernachlässigt, geht dies mit starkem emotionalen Leid einher, das sie belastet. Dies kann tiefe Einsamkeit sein, Scham oder das Gefühl, nichts wert zu sein.

Weil solche intensiven Gefühle für das Kind nicht auszuhalten sind, werden sie abgespalten. Ein Anteil (inneres Kind, Schattenkind) nimmt die traumatische Last auf sich und wird aus dem Bewusstsein verbannt. Hier existiert er jenseits der Zeit und kann dort sich nicht weiterentwickeln. Doch zumindest ist so für das (Sonnen)kind das (Über-)Leben weiterhin möglich und zumindest erträglich.

Damit das auch so bleibt, entwickelt das Kind Strategien, diese schlimmen Gefühle nicht wieder fühlen zu müssen und „im Keller“ zu halten. Vielleicht wird es unsichtbar, um einen überlasteten Elternteil zu schonen oder dessen Zorn nicht zu erregen, und kann so der Beschämung entgehen. Möglicherweise strengt es sich extrem an, um über hohe Leistung vielleicht doch etwas Anerkennung zu bekommen und kompensiert so das Gefühl, nichts wert zu sein. 

Und falls dann doch einmal die schlimmen Gefühle an die Oberfläche drängen, entwickelt das Kind Notfallprogramme, indem es sich ablenkt, betäubt, dissoziiert, vielleicht Wutausbrüche bekommt oder den Kasper gibt. Manchmal lenkt es sich mit anderen starken Gefühlen ab, um den ursprünglichen Schmerz nicht zu spüren.

Abgelehnte Anteile und die innere Beziehung

Einige unserer inneren Anteile tragen so schlimme Gefühle, dass wir sie auf gar keinen Fall spüren wollen, damals nicht und auch heute nicht.

Andere Anteile entwerten oder kritisieren vielleicht uns selbst oder andere Menschen, ohne dass wir ihnen Einhalt gebieten können. Wenn wir uns ihnen gegenüber ohnmächtig fühlen, ist es nicht verwunderlich, dass wir sie nicht haben wollen, um die Ohnmacht nicht zu spüren.

Wenn es darum geht, unaushaltbare Gefühle zu vermeiden (damit sie unbewusst und ungefühlt bleiben), können manchmal auch sehr extreme Teile auf den Plan treten. Nach dem Motto „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ gehen sie in den Angriff, verletzen oder kontrollieren andere Menschen oder uns selbst, bevor die eigene Furcht, Wut oder Scham spürbar werden kann. Für diese Teile schämen wir uns dann häufig auch und wollen sie nicht haben.

In unserem Inneren herrschen also häufig nicht Einigkeit und Teamgeist, sondern Zwiespalt oder tiefe Konflikte. Wie aber wollen wir innere Verbundenheit erleben, wenn wir Teile von uns so drastisch ablehnen? Verbundenheit können wir erst spüren, wenn wir mit ihnen Kontakt aufnehmen.

Was innere Verbundenheit verhindert

Doch häufig gibt es weder Zeit noch Möglichkeit, innezuhalten und sich den eigenen Empfindungen zuzuwenden. Dann entwickeln wir Kompensationsstrategien, damit das Leben weitergehen kann.

Die eigenen Anteile kennenzulernen, gelingt nur, wenn es den inneren und äußeren Rahmen dazu gibt. Es braucht Zeit, Ruhe und ein ausreichend sicheres Grundgefühl.

Insbesondere für Kinder ist dies aber häufig nicht gegeben. Oft werden die Eltern vor den schwierigen Gefühlen verschont. Insbesondere, wenn sie nicht gut mit sich selbst im Kontakt sind. Dann bleibt das Kind mit den schwierigen Gefühlen alleine.

Unsere leistungsorientierte Kultur lässt ebenfalls wenig Raum fürs Innehalten und verstärkt so diesen Prozess. Hohe Anforderungen an einen immer komplexer werdenden Alltag lassen wenig Spielraum für den beherzten Blick nach innen. Gleichzeitig bietet die Konsumwelt eine Vielfalt an Ablenkungsmöglichkeiten an.

Kein Wunder also, dass die unverbundenen Anteile ihren Ruf nach Aufmerksamkeit immer deutlicher machen und extremer werden. Erschöpfung, seelische Ungleichgewichte oder Krankheiten sind häufig Ausdruck eingefrorener Gefühle, die wahrgenommen werden wollen.

No Bad Parts – es gibt keine schlechten Teile

All diese Abwehrmechanismen und (Überlebens-)strategien sind sehr energieaufwändig. Doch hinter jeder Abwehr steht eine gute Absicht. Immer.

Auch Anteile, die heute problematisch für uns sind, haben sich in einer gefühlten Extremsituation entwickelt, um zu helfen. Oft sind sie dabei sehr engagiert. Es ist jedes Mal sehr berührend für mich, mitzuerleben, wenn Klienten dies für sich entdecken und sich mit „schwierigen Anteilen“ befrieden können.

Ob es sich um kindliche Anteile handelt, die trotzig werden oder unreif handeln, um übermächtige Antreiber, die bisweilen auch die Gesundheit oder Beziehungen aufs Spiel setzen, um ihre Ziele zu verfolgen, um depressive oder süchtige Anteile: sie alle kommen in guter Absicht. Auch wenn es auf den ersten Blick anders wirkt.

„Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.

Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit 
kommt als unverhoffter Besucher.

Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam dein Haus seiner Möbel entledigt,

Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht reinigt er Dich ja für neue Wonnen.

Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu dir ein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.“

Rumi

Die innere Landkarte im System der inneren Familie (IFS)

Im System der inneren Familie gibt es verschiedene Arten von Anteilen, die unterschiedliche Aufgaben im System haben.

Die Verteilung der Aufgaben auf verschiedene innere Instanzen ist ein natürlicher Prozess und findet bei jedem Menschen statt. Doch der Zusammenhalt im System kann je nachdem, was ein Mensch erlebt hat, stark variieren.

Ungewollt – die Verstoßenen

Meist sind dies kindliche Teile, die verletzt wurden oder traumatische Erfahrungen gemacht haben.  Sie tragen die Last der Verletzungen und schmerzhaften Gefühle, mit denen wir damals nicht zurechtgekommen sind. Daher werden sie vom Rest des Systems isoliert und ins Unbewusste verbannt, um das System zu schützen.  So wird dafür gesorgt, dass der Alltag weitergehen kann.

Menschen, die viele verletzte Anteile in sich tragen, sind oft empfindlich, verletzlich oder innerlich zerrissen. Sie sind schnell überflutet von Gefühlen wie Einsamkeit, Trauer, Wut, Ohnmacht oder Scham. Daher empfinden sie die Welt oft nicht als sicheren Ort, denn diese alten, nicht integrierten Gefühle können schnell getriggert werden.

Verletzte Anteile sind überwiegend im impliziten, also im Körpergedächtnis gehalten. (Mehr dazu in meinem Beitrag über Stress, Trauma und das Gedächtnis.) Daher ist es unerlässlich für ihre Integration, den Körper in den therapeutischen Prozess einzubeziehen.

Weil die versehrten Teile aber wahrgenommen werden wollen, um heilen zu können, drängen sie an die Oberfläche. Häufig zeigen sie sich über Körperempfindungen oder Emotionen, können aber auch über Flashbacks in Erscheinung treten. Dabei werden sie im Laufe der Zeit immer extremer, um sich Gehör zu verschaffen.

Die Beschützer

Um dies zu verhindern, treten dann andere Anteile auf den Plan. Aus ihrem natürlichen Zustand geraten sie dann in die Rolle der Beschützer. Manche von ihnen wirken präventiv im Alltag,  andere reaktiv im Notfall.

Alles im Griff – Die Vorsorglichen

Damit erst gar kein Schmerz oder Leid spürbar wird, sind unsere vorsorglichen Anteile oder Manager unermüdlich im Einsatz und kümmern sich um unserem Alltag.

Manager können kontrollieren, kritisieren, zwanghaft oder perfektionistisch sein. Sie können sich oder andere verurteilen oder manipulieren und haben oft einen hohen Leistungsanspruch. Doch auch die, welche Anderen gefallen wollen, Konflikte vermeiden oder sich lustig geben, gehören hierher.

Auch unser natürliches Bedürfnis zu helfen, kann zur Kompensationsstrategie werden. Das älteste Kind überforderter Eltern z. B. kann einen ausgeprägten Helferanteil entwickeln. Es lernt schon früh, sich zuerst um andere zu kümmern und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.

Menschen mit starken Helferanteilen finden sich später häufig in Heilberufen, im psychosozialen Bereich, als Coaches oder Berater wieder.

Gefahr im Verzug – Die Notfalltruppe

Während die Manager eher planvoll vorgehen und uns helfen, im Alltag zu funktionieren, taucht die Notfalltruppe im Krisenfall auf.

Um plötzlich aufwallenden Schmerz zu vermeiden und die (gefühlte) Katastrophe zu verhindern, handeln solche Anteile oft reaktiv, rigoros und impulsiv. Um ihr Ziel zu erreichen, nehmen sie auch teils massive Kollateralschäden in Kauf.

Die Notfalltruppe zeigt sich u.a. in Wutausbrüchen, psychosomatischen Erkrankungen (z.B. Migräne), Taubheit oder Dissoziation. Auch Eßstörungen, Süchte jeder Art und Gewalt gegen sich oder Andere zählen zu den Notfallstrategien. Deren „Erfolg“ geht oft zu Lasten der eigenen Gesundheit und der Beziehungen.

Selbstqualität als innere Haltung

Wo so viel innere Bewegung herrscht, braucht es ein ruhiges Zentrum. Um dorthin zu gelangen, hilft es, wenn wir uns mit unserem inneren heilen Kern verbinden. 

Dieser innere Seinszustand ist jedem Menschen zu eigen, aber wir können nicht immer dort ankommen. Wenn wir uns jedoch ausreichend sicher fühlen und sich damit auch eine relative Entspannung einstellt, können wir Zugang zu unserer inneren Weisheit erlangen.

Diese ist keine innere Instanz, sondern vielmehr eine Haltung der inneren und äußeren Welt gegenüber. Sie ist zugewandt und von Mitgefühl, Gelassenheit, Klarheit und Interesse geprägt.

Aus dieser Haltung heraus kannst Du vertrauensvoll und mutig handeln, kann sich Kreativität entfalten. Dann kannst Du Dein Leben gestalten, anstatt immer wieder auf Anforderungen zu reagieren.

Anteile sind nicht ihre Lasten

Oft verwechseln wir unsere extremen Anteile mit dem, was sie tragen. Da sie sich oft unter stressigen Bedingungen gebildet haben, tragen die die Last dieser Ereignisse (den Stress im Nervensystem) und handeln dementsprechend oft sehr vehement.

Wenn wir aber nur die Vehemenz ihres Handelns betrachten, können wir die Wesenhaftigkeit unserer Anteile nicht erkennen. Dann ist es verständlich, dass wir sie nicht haben wollen – mit dem Effekt, dass wir uns nicht verbunden, sondern einsam fühlen.

Ein Beispiel: Viele Menschen tragen kritische Anteile in sich, die entweder sie selbst oder auch andere Menschen extrem abwerten und kein gutes Haar an ihnen lassen. Wenn man darin nur die Stimme der Eltern oder der Gesellschaft hört, ist es leicht, sie als Introjekte abzulehnen. Dabei wird jedoch oft die gute Absicht übersehen, welche sie zu diesem Handeln bewegt.

Entlastete Anteile wandeln sich

Wenn es uns gelingt, die Anteile zu entlasten und zu integrieren, kann z.B. aus einem überkritischen Bewerter oder Abwerter ein Berater werden, der sorgfältig die momentanen Bedingungen und Handlungsoptionen abwägt und uns mit Rat und Tat zur Seite steht, um das Beste aus einer Situation zu machen.

Oder Helferanteile können sich so zurücknehmen, dass sie uns nicht mehr an den Rand der Erschöpfung bringen und leer hinterlassen, sondern die Verbundenheit und Menschlichkeit spüren lassen, die ausgewogenes Geben und Nehmen mit sich bringen.

Wenn die verletzten, oft kindlichen Anteile aus den Kellern unseres Unterbewusstseins wieder ans Licht dürfen und wahrgenommen werden, können auch sie heilen und integriert werden. Dann kehren sie in ihren ursprünglichen Zustand von Lebendigkeit, Vertrauen und Neugier zurück.

Was braucht es zur Integration?

Die wichtigsten Elemente, um Anteile zu integrieren, sind Zugewandtheit und Mitgefühl. Also genau die Qualitäten, die unserem inneren heilen Kern entsprechen.

Damit wir in diese Haltung finden können, braucht es häufig einen anderen Menschen, der uns dabei unterstützt, der uns co-reguliert. Wenn wir uns dadurch ausreichend sicher und verbunden fühlen, kann es auch gelingen, uns unseren Anteilen zuzuwenden und sie ebenfalls zu regulieren.

Wenn wir uns also ausreichend getragen und geborgen fühlen, können wir auch für unsere inneren Instanzen einen Raum ausreichender Sicherheit erschaffen. Mehr zum Thema Co-Regulation und Selbstregulation findest Du in einem anderen Blogartikel.

Eine verlässliche Beziehung mit unseren inneren Anteilen gestalten, gelingt oft nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit, Vertrauen aufzubauen und sich miteinander einzuspielen.

Dabei ist es wichtig, dass alle ihren passenden Platz finden.

„Unser inneres System vergleiche ich gern mit einem Orchester. Der innere heile Kern entspricht dem Dirigenten, die inneren Anteile sind die Musiker. Ein Dirigent ohne  Musikerinnen bringt genauso wenig einen Wohlklang zustande wie die Musiker ohne Dirigentin. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen, um als Gesamtheit zu wirken und eine Sinfonie erklingen zu lassen. Ihr Zusammenspiel ist also etwas ganz Wesentliches und bringt etwas Größeres hervor.“

Wenn innere Anteile integriert sind

Wenn wir unsere innere Vielfalt in eine stimmige Ordnung gebracht haben, können die verschiedenen Qualitäten der Anteile zusammen wirken und Synergien erzeugen.

Dann entsteht ein Gesamtausdruck, in dem das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile. Menschen, die so mit sich im Einklang sind,  strahlen dies auch aus und bringen ihr „inneres Strahlen“ in die Welt.

Wenn unsere Anteile entlastet sind und ihren Platz gefunden haben, erleben wir weniger innere Konflikte und Reibungsverluste. Wir können Emotionen spüren, ohne von ihnen überflutet zu werden. Damit steht uns mehr Kraft zur Verfügung.

Weil wir weniger auf potenzielle Gefahren reagieren, um ungeliebte Gefühle in uns auszusperren, erleben wir die Welt als sicheren Ort, in dem wir handlungsfähig sind und unser Leben aktiv gestalten können. Wir sind uns selbst gute Freunde und erleben zunehmend inneren Frieden und Gelassenheit.

Wenn wir in unserem Inneren mehr Verbundenheit erleben, können wir sie auch in der Beziehung zu anderen Menschen stärker spüren. Dann erleben wir uns eher als Teil von etwas Größerem und damit auch ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Vielleicht hast Du eine Ahnung von Deiner inneren Welt bekommen und einige Erkenntnisse gewinnen können. Wenn Dich dieser Ansatz anspricht und Du mit mir arbeiten willst, schau Dir meine Angebote zu körperorientierter Psychotherapie und traumasensibler Prozessbegleitung an.

Lesetipp

Richard Schwartz – Kein Teil von mir ist schlecht (No Bad Parts)
Jay Earley – Meine innere Welt verstehen

Bildnachweis
Papierschnitt –

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